„Ich habe mehr Selbstbewusstsein entwickelt.“

Marianne R. war früher wohnungslos. Heute arbeitet sie als Peer-Mitarbeiterin in der Wiener Wohnungslosenhilfe. neunerhaus erzählt sie, warum es ihr ausgerechnet in der Pandemie gelungen ist, den Absprung aus der Prostitution zu schaffen. Ihr Neustart in ein selbstbestimmtes Leben.

© Christoph Liebentritt

Als 2020 Pandemie begann, gelang es Marianne R. aus der Prostitution auszusteigen. Endlich – zuvor hatte sie es bereits vergeblich versucht. „Der Lockdown kam und da war der Job vorbei“, erinnert sie sich an diese Zeit. Insgesamt neun Jahre hatte sie in Studios und Laufhäusern gearbeitet und gelebt, wo die Miete für ein Zimmer so hoch war, dass sie sich keine eigene Wohnung zusätzlich leisten konnte. „Ich habe mich mit der Zeit immer unwohler gefühlt und wollte aussteigen. Beim zweiten Mal hab‘ ich gleich eine Postadresse bekommen und nach ein paar Monaten kam der Anruf, dass es ein Zimmer für mich gibt“, erzählt sie. Marianne R. zog zuerst in ein sogenanntes Chancenhaus, in dem wohnungslose Menschen unmittelbar und unbürokratisch eine Unterkunft bekommen und sich innerhalb weniger Wochen eine längerfristige Perspektive erarbeiten. Dann wurde ihr eine eigene Wohnung vermittelt.

Ausbildung zur Peer-Mitarbeiterin am neunerhaus Peer Campus

Über ihre Sozialarbeiterin hat sie vom neunerhaus Peer Campus erfahren – und damit von der Möglichkeit, mit dem eigenen Erfahrungswissen in der Wohnungslosenhilfe als Peer zu arbeiten. „Beim Bewerbungsverfahren für den Peer-Kurs ist mir Marianne zum ersten Mal aufgefallen“, erzählt Johanna Gabriel, die den Zertifikatskurs Peers der Wohnungslosenhilfe leitet. Heute sitzt sie gemeinsam mit Marianne R. auf einer Parkbank im 5. Wiener Gemeindebezirk. Im Gespräch mit den beiden wird schnell klar, dass sie sich gut kennen und sehr vertraut miteinander umgehen.

„Marianne hat uns am Bewerbungstag sehr beeindruckt. Und auch im Kurs dann zu beobachten, wie sie gewachsen ist – das war schön.“

Johanna Gabriel, Kursleitung neunerhaus Peer Campus

Als Kursleitung begleitet Johanna Gabriel jedes Jahr zwanzig Teilnehmende. In der Ausbildung geht es vor allem darum, die eigenen Erfahrungen mit der erlebten Obdach- oder Wohnungslosigkeit zu reflektieren und zu lernen, wie man mit diesem Wissen Menschen unterstützen kann, die aktuell wohnungslos sind. „Die Gruppen im Kurs sind sehr vielfältig: unterschiedlichste Geschichten, unterschiedlichste Lebensläufe, unterschiedlichste Gründe, wieso Menschen wohnungslos werden. Sei es – wie bei Marianne – über die Sexarbeit, sei es eine Suchterkrankung, Flucht, eine Gewaltbeziehung oder etwas ganz anderes. Was die Peers aber alle mitbringen, ist ein besonderes Engagement, eine große Motivation und die Lust, gemeinsam zu lernen.“

Für viele Teilnehmende ist der Kurs eine intensive Erfahrung: Zum Programm gehören Seminare vor Ort, Gruppenarbeiten, ein Praktikum, verpflichtende Reflexionstermine und eine
Abschlussarbeit. Daraus folgt auch eine persönliche Weiterentwicklung: „Meine größte Veränderung durch den Kurs war, dass ich mich mit der Zeit mehr eingebracht und gesagt hab‘, was ich mir denke – auch, wenn es nicht allen gepasst hat. Ich habe mehr Selbstbewusstsein entwickelt“, sagt Marianne R. Ein schönes Erlebnis, erzählt sie, war die Präsentation ihrer Abschlussarbeit, vor der sie großen Respekt hatte. „Wir haben vorher viel diskutiert“, erinnert sich auch Johanna Gabriel. „Ich habe ihr Potential gesehen und wollte ein Umfeld schaffen, in dem sie dann trotz Nervosität die Präsentation halten kann. Man kennt es von sich selbst ja auch: Manchmal traut man sich Sachen nicht zu und will in seiner Komfortzone bleiben. Dann tut es einfach gut, wenn jemand sagt: ‚Du wirst es gut machen, ich glaub‘ an dich.‘ Marianne hat es schlussendlich gemacht und es war grandios!“. Nach einer siebenmonatigen Ausbildung ist Marianne R. heute Peer-Mitarbeiterin in jenem Chancenhaus, in dem sie vorher selbst gelebt hat.


Dieser Beitrag erschien erstmals in der 48. Ausgabe der neuner News. Unser Magazin erscheint dreimal im Jahr und kann kostenlos unter spenden@neunerhaus.at abonniert werden.