Hüseyin Kahraman ist Schauspieler. Vor seiner Karriere war Kahraman zwei Jahre lang obdachlos. neunerhaus erzählt er von Stolz und Vorurteilen auf der Straße und wie das so ist, mit der eigenen Würde, wenn man obdachlos ist.

Stereotype Bilder von Obdach- und Wohnungslosigkeit
Ein bärtiger Mann auf einer Parkbank. Ein Bild, das gerne bedient wird, wenn über Wohnungs- und Obdachlosigkeit berichtet wird. Es ist ein Bild, das zur Ausgrenzung und Diskriminierung obdach- und wohnungsloser Menschen beiträgt, sie gleichermaßen beschämt und sozial isoliert. Von Menschen, die unsere Angebote bei neunerhaus aufsuchen, wissen wir: Viele trauen sich nicht zur Ärztin, nicht zu Behörden, brechen Beziehungen ab. Ständig spüren sie anklagende Blicke, die ihnen suggerieren, es nicht geschafft zu haben. Auch deshalb wählt neunerhaus bewusst eine entstigmatisierende (Bild)Sprache, die keine Klischees bedient, sondern die Selbstbestimmung und Würde wohnungs- und obdachloser Menschen in den Vordergrund stellt.
Hüseyin Kahraman betrieb über 15 Jahre lang ein Modegeschäft in Hannover. Als er 2017 alles verlor, kehrte er Hannover den Rücken und floh regelrecht nach Hamburg. In der Hansestadt kannte ihn niemand, dort konnte er untertauchen. Seine ganze Geschichte haben wir hier veröffentlicht.
Ich habe meine Familie nicht konsultiert, meine Freunde nicht konsultiert. Aus Stolz.
Hüseyin Kahraman
Nach Essenresten gefragt
Kahramans Familie wohnt etwas außerhalb von Hannover. Nach seinem „kompletten Absturz“ 2017 hätte er eigentlich dorthin gehen können, Platz wäre gewesen. Auf die Frage, weshalb er diese Möglichkeit nicht nutzte, antwortet er: „Aus Stolz.“ Aus Stolz habe er auch seine Freund*innen und Familie nicht um Hilfe gebeten. Auch sonst schlug er sich meist allein durch. Wenn es in Hamburg „extrem kalt“ war, suchte er schon einmal einen Kälte-Bus auf. In Restaurants fragte er nach Essen und Essensresten. „Nach einiger Zeit auf der Straße hast du deine Würde völlig über Bord geworfen“, erinnert sich Kahraman an diese Zeit zurück. Viele Restaurants hätten ihn rausgeschmissen. Ein türkischer Wirt ist ihm jedoch positiv in Erinnerung: Als Kahraman nach Essensresten fragte, antwortete dieser: „Essensreste gibt es bei uns nicht! Du kommst jeden Tag hierher, egal zu welcher Zeit, setzt dich an einen Tisch, suchst dir etwas von der Speisekarte aus und isst und trinkst.“ Für Lemmy, Kahramans Malteserhund, gab es auch immer ein bisschen Fleisch.
Heute spricht Kahraman offen über seine Obdachlosigkeit. Aus seinem alten Bekanntenkreis hört er dann oft: „Mensch, warum hast du denn nichts gesagt?“ Die Scham, um Hilfe zu bitten, ist für viele wohnungs- und obdachlose Menschen eine Hürde. Eine Hürde, die ihre prekäre Situation noch verschlimmern kann. neunerhaus will diese Hürde abbauen, indem es über strukturelle Ursachen von Wohnungslosigkeit aufklärt, ein differenziertes Bild der Thematik zeigt, nicht beschämt und in der täglichen Arbeit zeigt: du bist wichtig.