neunerhaus Peer Campus

Arbeiten im Tandem

Wie kann die Zusammenarbeit in einem Team aus mehreren Berufsgruppen gelingen? Jan Chlebovec, Peer-Mitarbeiter im neunerhaus Café und Johanna Gabriel, Sozialarbeiterin im neunerhaus Café und Kursleitung am neunerhaus Peer Campus, berichten, wie der Alltag „im Tandem“ funktioniert.

Johanna Gabriel: Vor etwas mehr als zwei Jahren wurden die ersten Peers der Wohnungsloshilfe angestellt. Schnell wurde deutlich, wie bereichernd und herausfordernd es ist, eine neue und so unbekannte Berufsgruppe zu inkludieren. In der Wohnungslosenhilfe arbeiten Peers immer im Team mit anderen Berufsgruppen – vor allem im Tandem mit Sozialarbeiter*innen. Die Sozialarbeit bringt Fachwissen ein und die Peer-Arbeit erweitert die Unterstützungsleistung mit reflektiertem Erfahrungswissen. Die Vorteile der Arbeit im Tandem sind: vielfältige Blickwinkel, verschiedene Lösungswege, neue Herangehensweisen und Arbeitsentlastung.

Jan Chlebovec: Der Einstieg in die Peer-Arbeit war für mich sehr intensiv. Ich kannte viele Situationen aus der Theorie, aber in der Praxis ist jeder Fall völlig anders. Ich beobachte Sozialarbeiter*innen seit langer Zeit und arbeite eng mit ihnen zusammen. Bevor ich den Peer-Kurs gemacht habe, hatte ich nie etwas mit Sozialarbeit zu tun. Für mich war das alles neu. Aber die Kolleg*innen im neunerhaus Café haben mich von Anfang an unterstützt und mir den Rücken gestärkt.

Gabriel: In vielen Teams kam es mit dem Einstieg eines*r Peer zu Verwirrung und Überforderung. Selbst ich als Sozialarbeiterin, der die Theorie der Peer-Arbeit bestens bekannt war, stellte mir die Fragen: Welche Aufgaben übernimmt mein*e Peer-Kolleg*in? Wie können unsere verschieden Berufsgruppen für die Nutzer*innen Wirkung haben? Es kamen obendrein bedrohliche Gedanken, wie zum Beispiel: Kann ich als Sozialarbeiter*in überhaupt noch eine vertrauensvolle Beziehung zu den Nutzer*innen herstellen, wenn wir eine*n Expert*in aus Erfahrung im Team haben?

Chlebovec: Der*die Peer ist oft der erste Kontakt des*r Nutzer*in mit dem Sozialsystem. Manche Gespräche dauern einige Minuten, manche dauern Stunden, und manche Menschen benötigen Tage, um Vertrauen aufzubauen. Während dieser ersten Besprechung versuche ich, so viele Informationen wie möglich zu sammeln. Kein Druck, keine zeitliche Begrenzung, nur mit Kaffee und einer stressfreien Zigarette. Auf diese Weise möchte ich mit den Nutzer*innen alle notwendigen Informationen vorbereiten und erst dann einen Termin bei der Sozialarbeit erfragen.

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© Christoph Liebentritt

Gabriel: Wie die Tandemarbeit in der Praxis zwischen Peers und Sozialarbeiter*innen gelingt, kann anhand einzelner realer Beispiele dargestellt werden: Erstberatung, Nutzer*in nimmt zum ersten Mal ein niederschwelliges Beratungsangebot in Anspruch, schläft derzeit im Park und erkundigt sich bzgl. Notquartier. Rolle Sozialarbeit: Perspektivenabklärung, Anspruchsabklärung, Weitervermittlung zur Vergabestelle. Rolle Peer: Erfahrungsaustausch, Infoweitergabe zum Thema: wie läuft es im Notquartier ab, Mut machen, Begleitung. Thema Jobsuche als wohnungslose Person. Rolle Sozialarbeit: organisiert bei Bedarf passenden Schlafplatz, kümmert sich darum, Ansprüche geltend zu machen, liest möglichen Arbeitsvertrag durch. Rolle Peer: Recherche von Jobinseraten, Mut machen (wie kann es gelingen, nach Langzeitarbeitslosigkeit einen Job zu finden), „Realitätscheck“ (welche Jobs sind realistisch).

Chlebovec: Die Arbeit im Tandem kann die Sozialarbeit entlasten und schneller zur Lösung eines bestimmten Problems führen. Schlussendlich ist es so möglich, mehr Nutzer*innen pro Tag zu begleiten

Gabriel: Viel Zeit, gemeinsame Gespräche und ein „Draufeinlassen“ von beiden Seiten ist nötig, damit die Arbeit als Tandem gelingt. Wenn eine neue Berufsgruppe eingegliedert wird, kommt es vor, dass eine Berufsgruppe mehr Zeit in Anspruch nimmt als die andere. Das löst klarerweise Frust auf der anderen Seite aus. Es muss für beide gleich viel Zeit vorhanden sein, beide Blickwinkel brauchen Anerkennung.

Chlebovec: Im Peer-Kurs habe ich es geschafft, die Barriere abzubauen, die ich hinter meiner Erfahrung mit Obdachlosigkeit errichtet hatte. Ich wollte nie wieder darauf zurückkommen, weil ich mich schämte. Jetzt bin ich stolz darauf, diese Barriere überwunden zu haben, meine Erfahrungen betrachtet zu haben und ich kann anderen sinnvoll helfen, den begehrten Platz zu finden, an dem sie sagen: Ich bin hier zu Hause, ich fühle mich hier gut.

Gabriel: Aus eigener Erfahrung als Sozialarbeiterin kann ich sagen, dass die gemeinsame Arbeit nicht nur gelingen kann, sondern einen Mehrwert für die Sozialeinrichtungen und die Nutzer*innen bringt. Wenn beide Tandempartner*innen als Expert*innen in ihrem jeweiligen Themenbereich von der*dem jeweiligen Kolleg*in wahrgenommen werden und wenn schlussendlich aus dem Tandemwissen ein passendes Angebot für die Nutzer*innen geschaffen wird, ist die Arbeit gelungen.

Jan Chlebovec hat den dritten Zertifikatskurs Peers der Wohnungslosenhilfe am neunerhaus Peer Campus absolviert und arbeitet seither im neunerhaus Café. Bevor er zum Peer Campus kam, war er fünf Monate lang obdachlos und hat dann drei Jahre bei VinziRast gewohnt. Heute lebt er in einer eigenen Wohnung.

Johanna Gabriel arbeitet im neunerhaus Café und leitet den Zertifikatskurs Peers der Wohnungslosenhilfe am neunerhaus Peer Campus. Als ausgebildete Sozialarbeiterin ist sie Teil eines multidisziplinären Teams, dem auch Peers angehören. Im Tandem mit einem Peer-Kollegen unterrichtet sie Peers in Ausbildung.

Dieser Beitrag ist erstmals in der Publikation „PEER we are!“ erschienen.