"Dass wir eine Wohnung über neunerhaus bekommen haben, war eine große Erleichterung."

Ein eigener Schlüssel: Ein Rückblick auf 2022

Im Jahresbericht 2022 blicken wir zurück auf ein Jahr Wohnen bei neunerhaus

„Ich hab gar nicht schlafen können, ich war so aufgeregt“, erinnert sich Bertl V. an den Abend vor seinem Einzug in die neue Wohnung. Jahrelang hatte er in Wien seinen Lebensmittelpunkt, ohne offiziell den Wohnsitz zu melden. Als er seine Ausweise verlor und kurz darauf seine Freundin starb, war er ohne Papiere und ohne Anspruch auf eine Gemeinde- oder Genossenschaftswohnung. Auch am privaten Mietmarkt war es für ihn unmöglich, eine leistbare Wohnung zu bekommen. Nach mehreren Monaten in einer Notschlafstelle wohnt Bertl V. heute wieder in einer eigenen Wohnung, die er von neunerimmo vermittelt bekam. Das Team von neunerhaus Housing First und Mobil betreutes
Wohnen hat ihn auf diesem Weg begleitet. „Ohne Housing First würde ich heute wahrscheinlich noch irgendwo in einem Park schlafen und hätte vermutlich jegliche Perspektive verloren“, berichtet er. Durch Housing First bekommen obdach- und wohnungslose Menschen so schnell wie möglich wieder eine eigene Wohnung. Dazu wird sozialarbeiterische Unterstützung nach Bedarf angeboten.

Vor zehn Jahren hat neunerhaus als erste Organisation Housing First in Wien eingeführt.

Seither hat sich die Umsetzung des Konzepts in der Praxis stetig weiterentwickelt: Noch stärker als zuvor setzte das Team von Housing First und Mobil betreutes Wohnen im vergangenen Jahr darauf, Nutzer*innen proaktiv anzusprechen, um frühzeitig da zu sein, wenn es schwierig wird. ImVordergrund stehen dabei die Existenzsicherung und der Erhalt der Wohnung – oder das Finden einer neuen, wenn der bisherige Vertrag ausläuft. 2022 hat das neunerhaus Team 876 Personen betreut und beraten und 74 Wohnungen vermittelt. Ein großer Teil der Wohnungsvermittlungen wird von neunerimmo abgewickelt, dem 2017 gegründeten gemeinnützigen Tochterunternehmen von neunerhaus. neunerimmo verbindet die Immobilienbranche mit Sozialorganisationen. Ziel ist es, leistbaren Wohnraum für wohnungsloseMenschen zu entwickeln, zu vermitteln und zu vermieten. neunerimmo arbeitet dafür mit 31 Bauträgern und 11 Sozialorganisationen zusammen.

Mohammad B. lebt mit seinen drei Kindern, die er allein erzieht, von einer kleinen Invaliditätspension. Nach mehreren Jahren im Ausland war es für die Familie unmöglich, eine leistbare Wohnung in Wien zu finden. „Dass wir dann eine Wohnung über neunerhaus bekommen haben, war eine große Erleichterung“, berichtet Mohammad B. Die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen im vergangenen Jahr machen einmal mehr deutlich, wie wichtig es ist, Zugänge zu Wohnraum für obdachlose und armutsbetroffene Menschen zu schaffen. Die Mieten am privaten Wohnungsmarkt sind zwischen 2020 und 2022 um 12 Prozent angestiegen – das lässt armutsbetroffenen Menschen kaum Chancen. Dazu kommen Ausschluss und Diskriminierung, die Betroffene am privaten Wohnungsmarkt oft erfahren.

Auf Bundesebene vermittelt seit 2021 das Projekt „zuhause ankommen“ der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAWO) Housing First-Wohnungen an obdachlose und armutsbetroffene Menschen. Allein in Wien ist es dem Projekt in Zusammenarbeit mit neunerimmo 2022 gelungen, 50 Housing First-Wohnungen an 102
strukturell benachteiligte Menschen zu vermitteln.

Neben den Mieter*innen, die in ihrer eigenen Wohnung leben, wohnten im vergangenen Jahr 226 Bewohner*innen in den drei neunerhaus Wohnhäusern.

Jedes neunerhaus Wohnhaus hat eine andere Zielgruppe besonders im Fokus – von Menschen mit erhöhtem Betreuungsbedarf bis zu jungen Erwachsenen. Gemeinsam zielen alle Wohnangebote darauf ab, den Mieter*innen und Bewohner*innen ein richtiges Zuhause zu bieten – und sei es nur für einen gewissen Zeitraum. Im vergangenen Jahr wurde das neunerhaus Billrothstraße zum Chancenhaus für junge obdach- und wohnungslose Menschen zwischen 18 und 30 Jahren. Seit Jänner 2023 finden dort junge Erwachsene ein kurzfristiges Zuhause. Das Chancenhaus ist das erste seiner Art spezifisch für diese Zielgruppe und füllt eine wichtige Lücke innerhalb der Wiener Wohnungslosenhilfe – ein dringend gebrauchtes Angebot.

„Als ich auf der Straße war, waren alle Notschlafstellen für Erwachsene. Gefährlich ist es als Frau immer auf der Straße, aber als Jugendliche ist es noch gefährlicher, weil man naiver ist und schneller vertraut – man hinterfragt weniger, wenn jemand Hilfe anbietet. Dadurch kommt man schnell in gefährliche Situationen“, berichtet Nina Novotny, die selbst als Jugendliche obdachlos war. Als Peer-Mitarbeiterin im neunerhaus Billrothstraße ist sie jetzt für junge Menschen da, die gerade in einer schwierigen Lebenssituation sind.

Obdachlosigkeit kann jede*n treffen: Im vergangenen Jahr startete neunerhaus eine Kampagne,um darauf hinzuweisen, dass ein Schicksalsschlagoder eine akute Krise von einem Moment auf den anderen alles ins Wanken und Menschen in massive Notlagen bringen kann. Obdach- und Wohnungslosigkeit sind gesellschaftliche Realität. Bei neunerhaus wissen wir, dass es für den Weg zurück in ein selbstständiges Leben meist mehr braucht als punktuelle Unterstützung: das Gefühl, mit allen Ängsten und Sorgen und der eigenen Geschichte ernst genommen zu werden, eine Begegnung auf Augenhöhe und eine Beziehung, die auf Menschlichkeit und Verständnis basiert. Gemeinsam entwickeln wir Perspektiven und zeigen damit: Obdach- und Wohnungslosigkeit ist eine Phase, die ein Ende hat.

Dieser Beitrag ist erstmals im Jahresbericht 2022 erschienen.