Johanna Gabriel, Kursleitung am neunerhaus Peer Campus, schreibt, wie sich ehemals obdach- und wohnungslose Menschen im Rahmen der Peer-Ausbildung entwickeln und welche Rolle berufliche Tätigkeit dabei spielt.
Wohnungslose und obdachlose Personen haben neben dem erlebten Wohnungsverlust viele weitere dramatische Erfahrungen gemacht. Viele müssen mit Themen wie Langzeitarbeitslosigkeit, Armut, psychischen Erkrankungen, Suchterkrankungen, Gewalt und Flucht umgehen lernen.
„Irgendwann wusste ich nicht mehr, was zuerst war, der Wohnungsverlust oder die anderen belastenden Themen, mit denen ein Umgang gefunden werden muss.“
– Zitat Teilnehmer*in Zertifikatskurs Peers der Wohnungslosenhilfe
Im Laufe eines Peer-Zertifikatskurses wird jedoch deutlich, dass die Frage nach dem „Was war zuerst?“ nicht mehr wichtig ist. Die viel wichtigere Frage nach der Wohnungslosigkeit bzw. Obdachlosigkeit, nach dem Einzug in die neue Wohnform ist: Was kommt als nächstes? Ehemals Betroffene stellen sich die berechtigte Frage nach dem „guten Leben“. Denn zwischen Leben und Überleben gibt es einen großen Unterschied. Ich habe viele Kursteilnehmende erlebt, die im Kurs regelrecht aufblühen. Zuerst kommt – als Grundbedürfnis und Menschenrecht – das Wohnen. Und danach? Für ein ganzheitliches erfülltes Leben braucht es mehr als ein Dach über dem Kopf.
Der Zertifikatskurs bietet für viele Betroffene eine neue Perspektive und die Chance, ihre Erfahrungen nutzbar zu machen. Lücken im Leben werden im Peer-Kurs als versteckte Kompetenz sichtbar gemacht, diese Erkenntnis stärkt Kursteilnehmende extrem. Im Kurs lernen die Teilnehmenden, ihr Erfahrungswissen zu aktivieren. Zudem erleben sie sich als Teil einer Gruppe, was für viele nach langer Exklusion eine neue und oft wunderbare Erfahrung ist, die ermächtigt.
Empowerment in Bezug auf die Peer-Arbeit in der Wohnungslosenhilfe bedeutet: Interessierte Personen entschließen sich, sich für den Peer-Kurs zu bewerben, um mit ihrem erlebten Wohnungsverlust nach dem absolvierten Kurs bezahlt zu arbeiten. Das klingt erstmal banal, allerdings hat es gesamtgesellschaftlich eine große Bedeutung, denn exkludierte Menschen zeigen damit auf: Wir haben etwas zu sagen, wir wollen mitgestalten, unsere Erfahrung teilen, um anderen damit Mut zu machen.
Peer-Arbeit kann auf verschiedenen Ebenen wirken – bei den Nutzer*innen, im Team und in der Organisation, aber auch auf externe Kooperationspartner*innen und in der Arbeit gegen Stigmatisierung. Den Kursteilnehmenden ist diese Empowerment-Möglichkeit bewusst. Als Kursleitung merke ich, wie Menschen während der Ausbildung wachsen, aus sich herauskommen, selbstbewusst werden und an innerer Stärke gewinnen.
„Ich habe meine Wohnung bezogen und mich eingelebt, nun mache ich die Peer-Ausbildung und zum ersten Mal seit langer Zeit fühlt sich mein Leben wieder sinnvoll an, der Kreis schließt sich.“
– Zitat Teilnehmer*in Zertifikatskurs Peers der Wohnungslos
Durch den Zertifikatskurs und die anschließende bezahlte Peer-Arbeit übernehmen ehemals wohnungslose Menschen Verantwortung und ein Selbstermächtigungsprozess beginnt.
Dieser Beitrag ist erstmals in der Publikation „PEER we are!“ erschienen.