„Er war ein Peer, ohne es zu wissen“

Franz Haberl berichtet von seinem Weg aus der Wohnungslosigkeit zur Peer-Mitarbeit

Es war Ende März, die Nächte auf der Straße waren noch kalt. Ich war zum ersten Mal in meinem Leben ohne feste Bleibe, habe mich am Bahnhof aufgehalten, solange das ging. Damals war ich noch Spieler, dachte, ich könnte mit meinen letzten Euros das Glück erzwingen, aber das hatte ja schon vorher nie funktioniert. Jetzt war ich hier, völlig mittellos, ohne Aussicht auf Besserung. Immer wieder gingen mir, wie schon in den letzten Jahren zuvor, die Gedanken im Kopf herum, meinem Leben ein Ende zu setzen. Aber mein Überlebenswille hat sich durchgesetzt, in mir wuchs ein kleines Korn, das mir sagte, ich brauche Hilfe. Aber wo konnte ich Hilfe bekommen? Ich hatte keine Ahnung.

Ziellos irrte ich in der Stadt umher, saß stundenlang auf Parkbänken oder am Hauptbahnhof. Wichtig war in dieser Phase nur, dass ich jeden Tag zwei Euro hatte, damit ich das Schließfach verlängern konnte, wo mein letztes Hab und Gut verstaut war. Es hat Tage gedauert, dann traf ich auf einer Parkbank einen Mann, auf den ersten Blick kein außergewöhnlicher Mann, in meinem Alter, er schaute auf sein Mobiltelefon, ich setzte mich neben ihn, ohne Worte. Ich steckte mir eine Zigarette an, dann noch eine und so weiter. Wir saßen da, jeder mit sich beschäftigt. Irgendwann fragte er mich, ob ich auch für ihn eine Zigarette hätte und wir begannen uns zu unterhalten. Er erzählte mir, dass er krank sei, seinen Job verloren hatte und jetzt auch seine Wohnung weg sei. Warum er mir vertraute und so offen alles erzählte, konnte ich mir damals nicht erklären, aber es hat mich beeindruckt und ich fasste den Mut, ihm auch von mir zu erzählen, wie ich hier gelandet bin. Dass ich nicht weiß, wie es morgen weitergehen soll.

Franz Haberl sitzt auf einer Bühne und liest seinen Text vor.
© Christoph Liebentritt

Da sagte er mir, wo ich hingehen soll, damit mir geholfen wird, damit ich nicht hungern musste, ja, er erzählte mir auch, wo ich ohne Krankenversicherung medizinische Hilfe erhalten konnte. Was ich damals nicht wusste: Er war ein Peer, ohne es zu wissen, ohne eine Ausbildung zu haben. Er zeigte mir das P7 und erklärte mir, dass ich dort auch einen Schlafplatz bekommen konnte. Zu diesem Zeitpunkt war ich noch nicht bereit, es hat weitere vier Tage und Nächte gebraucht, bis ich endlich den Schritt gewagt habe, um Hilfe zu bitten. Ich, der ehemalige Fabriksbesitzer, weltgereist, belesen, sprachgewandt und trotzdem obdachlos. Allein der Gedanke daran, noch länger die Nächte im Freien zu verbringen, ließ mich schlussendlich die Entscheidung treffen, über meinen Schatten zu springen. Von nun an ging alles schnell, ich bekam einen Schlafplatz in einer Notunterkunft, ich konnte duschen, hatte einen Spind für meine Habseligkeiten und ein Bett für die Nacht. Gleichzeitig musste ich aber auch das andere große Problem lösen. Ich machte mich auf zur Spielsuchthilfe und holte mir dort Unterstützung, um mit meiner Sucht umzugehen.

Es gibt einige Menschen, denen ich heute dankbar bin, dass sie mir in diesen schweren Monaten zur Seite gestanden sind, aber besonders war es das Team der Spielsuchthilfe. Ich begann sofort mit Therapie, Gruppentreffen und auch mit Freizeitbeschäftigung. Ich machte Fortschritte, war nicht mehr komplett mittellos. Die Sozialarbeiterin der Spielsuchthilfe half mir, meine Schuldenregulierung in Angriff zu nehmen. Eines Tages rief sie mich an und sagte, sie hätte etwas für mich, das zu mir passt und gab mir den Folder für den ersten Zertifikatskurs zum Peer der Wohnungslosenhilfe. Ich war sehr angetan von der Initiative und dem Gedanken dahinter und ich sah eine Chance, wieder zu arbeiten. Ich ging also zu den Auswahltagen und wurde für den Kurs angenommen. Es war für mich eine große Freude, ich habe allen davon erzählt. In der Zwischenzeit hatte ich bereits ein Zimmer in einer Männerunterkunft bekommen, wo ich sieben Quadratmeter für mich hatte und nicht mehr wie im Notquartier den ganzen Tag in der Stadt herumlaufen musste.

Der Kurs selbst war ein Erlebnis, das gerade für mich umso erstaunlicher war, da ich in meinem früheren Leben schon im Weiterbildungsbereich tätig war. Aber ich hatte nie etwas Ähnliches erlebt. Diese Offenheit, dieser Umgang miteinander war für mich überwältigend. Vom ersten Tag an war mir klar: Hier bin ich richtig. Und es waren der Kurs, die Lerngruppe und das Praktikum, die mir geholfen haben, mich zu finden, meine Ängste letztendlich zu überwinden und meine Spielsucht in den Griff zu bekommen. Ich versuchte mich im Kurs so gut wie möglich einzubringen und ich gewann neue Freund*innen, ehrliche Freund*innen, auch wenn manchmal die Wahrheit weh tat, aber ich war in einem neuen Leben angekommen. In der Abschlussarbeit versuchte ich, ein wenig meine Geschichte zu verarbeiten und zu zeigen, dass es keine Schande ist um Hilfe zu bitten. Jede*r kann in eine Situation kommen, aus der man sich selbst nur schwer oder gar nicht befreien kann.

Heute bin ich seit mehr als zwei Jahren als Peer der Wohnungslosenhilfe angestellt und ich denke noch immer daran, wie man uns damals gesagt hat, es ist ein Pilotprojekt und niemand kann sagen, ob es je Jobs für Peers geben wird. Trotzdem haben wir den Kurs durchgezogen und uns bemüht, alles aufzunehmen. Wir haben eine Chance bekommen und diese genutzt. Heute stehen wir als Berufsgruppe fest und sind aus der Wohnungslosenhilfe nicht mehr wegzudenken.

Dieser Beitrag ist erstmals in der Publikation „PEER we are!“ erschienen.