Es gibt immer einen Weg

Carmen Ploch, Peer-Mitarbeiterin in der neunerhaus Praxis Psychische Gesundheit, schreibt über Depressionen, Vorurteile und die Rolle von Peer-Arbeit in der Wohnungslosenhilfe.

Lange, vielleicht zu lange, war ich überzeugt: Mit mir stimmt etwas nicht. Etwas kann nicht stimmen, dass ich immer so viel überlege und mir den Kopf zerbreche über alles und jeden, viel zu ernsthaft und empfindlich noch dazu. An einem Punkt begann ich mich richtiggehend zu boykottieren – für meine Phantasie und Ideen, für meine Bedürfnisse und ewigen Empfindlichkeiten. Kein Platz dafür im Alltag.

Ich hielt es für Hohn, wenn mich jemand fragte, ‚wie es denn geht‘ – und umgekehrt wollte auch ich selten wissen, wie das Wetter denn wieder so wäre. Egal wohin ich mich wendete, immer sah es so aus, als ob meine Gedanken und Bedürfnisse nicht angebracht, zu anspruchsvoll oder, viel wahrscheinlicher, einfach zu anstrengend waren. Nicht angepasst genug, nicht akzeptierend genug, zu viele Fragen. Die ständigen und unaufhörlichen Zweifel an mir selbst führten mich früh auf Wege, die ich so manches Mal am liebsten gar nicht erst betreten hätte – in seelische Grenzländer und über selbige hinaus, viel weiter als ich es mir je selber ausgesucht hätte.

Natürlich, auch im Leid liegt eine gewisse Kraft, wenn auch eine zunächst scheinbar destruktive. Mir wurden Medikamente verschrieben, gesagt, ich müsse diese ein Leben lang nehmen. Es macht sonst keinen Sinn, chronischer Defekt, eindeutiges Fallbeispiel. Rezidivierende Depressionen sind nun einmal auch eine Frage der genetischen Prädisposition. Noch dazu Tendenzen, Frust und Ärger eher an sich selber denn im Außen abzulassen; eine emotional Instabile, eine, die zu viel spürt und fühlt und nachdenkt, wie anstrengend. Ein Beweis, dass Medikamente hermüssen.

Eine neunerhaus Peer-Mitarbeiterin spricht vor dem Gesundheitszentrum mit einem Nutzer
© Christoph Liebentritt

Die Sache mit dem Reden und tatsächlichen Zuhören schien nie einfach zu sein – mit mir reden konnte und wollte nie jemand ausführlicher. Zu wenig Finanzen, zu viel Schmerz. Und Schmerzen sind es auch, die mich immer schon beschäftigt haben. Denn davon gibt es bekanntlich viele und bis heute weiß ich selber nicht, woran ich eigentlich genau leide. Die Tatsache, dass meine Depressionen und verschiedensten Empfindlichkeiten wahrscheinlich eher Symptome denn Ursache sind, traute ich mich die weitaus längste Zeit nicht zu sehen, geschweige denn zu akzeptieren. Und groß war meine Angst, genau hinzusehen, und noch mehr Überwindung hat es mich in all der Zeit gekostet – denn wer wird schon gerne als Stereotyp gesehen, lässt sich gerne in eine Schublade stecken.

Ich wäre froh, wenn ich sagen könnte, ich habe ’nur‘ Depressionen – alles recht eindeutig und einfach nachzulesen. Aber posttraumatische Be- lastungen sind nun einmal, was der Name verrät, und Borderliner sind nochmal anstrengender – die sind besonders schwer zu behandeln – als ob man nur unter vorgehaltener Hand darüber reden dürfte, so fühlt es sich an. Die Vorurteile, denen man begegnet, wenn man sich mit der Thematik eingehend beschäftigt, sind außerordentlich, bräuchten eigentlich ein ganz eigenes Kapitel.

Sicher ist genau diese ständige, unausweichliche Auseinandersetzung mit mir selbst einer der Gründe, dass die Menschen, die mit mir sprechen und denen ich versuche, mit ganzer Aufmerksamkeit zuzuhören, genau spüren, dass ich nach wie vor meine eigenen Kämpfe austrage. Dass ich es absolut ernst meine, wenn ich frage, wie es jemandem geht und es mich eben nicht interessiert, was bereits bei anderen Gelegenheiten rezitiert wurde – was man eben so sagt, wenn man gefragt wird, wie es einem geht. Wenn ich frage, dann möchte ich wissen, was jemanden im Innersten bewegt – wenn die Unerträglichkeiten zu groß werden, wenn sonst niemand fragt, wovon man einmal geträumt hat. Dann braucht es jemanden, derdie den Mutigen zur Seite steht, jemanden, der*die es wagt, gemeinsam einen Blick in den Abgrund zu werfen.

Ich war immer der Überzeugung, dass vieles, was einen krank macht, was einen am meisten schmerzt, auch der Schlüssel zur Genesung sein kann. Dass es wichtig ist, mutig zu sein und genau hinzusehen und zu hinterfragen. Sich Zeit zu nehmen und zwischen den Zeilen zu lesen, wahrhaft zuzuhören. Ob sich selber oder jemand anderem ist dabei völlig unerheblich.

Naturgemäß kommen auch Fragen auf, die wir mitunter nicht beantworten können. Auch bei meinen eigenen blieben die Antworten stets vage oder zur Gänze aus. Deswegen tat ich, was ich immer schon tat und verließ mich auf meine Intuition, nutzte meine schon vorhandenen Interessen und Fähigkeiten mich auszudrücken und an mir zu arbeiten. Solange ich mich erinnern kann, war ich nämlich so eine. Eine Bastlerin und Autodidaktin, eine, die Musik absolut braucht, gerne schreibt und liest, gerne kreativ ist. Sich mitunter lange Gedanken um die Beschaffenheit und Sinnhaftigkeit von Farbe, Form, Struktur und sogar den Geruch von Materialien macht. Eine, die über die Zeit gelernt hat, dass es oft hilft, Gedanken und Schmerzen zu formulieren. Oder sich bei Bedarf auch davon abzulenken, zu refokussieren. Eine, die oft gegen den Strom schwamm und bis heute schwimmt und unbewusst dabei mit der Zeit Resilienz und umso mehr Ressourcen erlernte.

Gerade der auf eigenen Erfahrungen basierenden Arbeit der Peer-Mitarbeiter*innen kommt eine ganz besondere Rolle zu: Ihnen ist es erlaubt, Zeit und damit Aufmerksamkeit, Wertigkeit zu schenken. Ihnen ist es erlaubt, anderen zu zeigen, dass man sich von Schwierigkeiten nicht bestimmen oder gar definieren lassen muss. Sondern vielmehr, dass die eigene Geschichte, die eigenen Erfahrungen und Erkenntnisse, ganz im Gegenteil bereits wichtige Tools und Kompetenzen mit sich bringen. Man kann lernen, sie zu erkennen und anzuwenden.

Man darf sich Zeit nehmen, sich zu erinnern: Es gibt immer einen Weg.

Bio:

Carmen Ploch hat in verschiedenen Berufen gearbeitet und lange Erfahrung mit prekärem und gesundheitsgefährdendem Wohnen und einem Leben an der Armutsschwelle. Sie weiß um die psychischen und physischen Herausforderungen, die die unterschiedlichen Belastungsbilder mit sich bringen und setzt sich für eine gesundheitsfördernde und entstigmatisierende Grundhaltung ein. Ihren eigenen Kreativ-Workshop möchte sie weiterentwickeln in eine Selbstfürsorge-Werkstatt im Sinne des Salutogenese-Gedankens. Carmen ist nach ihrem Peer-Zertifikatsabschluss seit Mitte 2021 Peer-Mitarbeiterin in der neunerhaus Praxis Psychische Gesundheit.

Dieser Text ist erstmals in der Publikation „PEER we are – Einblick in die Peer-Arbeit der Wiener Wohnungslosenhilfe“ erschienen.


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