„Es ist immer jemand da“

Sie waren aus verschiedenen Gründen wohnungslos und haben auf ihrem Weg zurück in ein selbständiges Leben einen Zwischenstopp bei neunerhaus eingelegt: Alexander F. und Marianne R. im Gespräch mit den neunerhaus Mitarbeiter*innen, die sie ein Stück auf ihrem Weg begleitet haben.

„Als wir uns getrennt haben, hat es geheißen, ich muss gehen. Also bin ich gegangen“, berichtet Alexander F. Er sitzt im neunerhaus Café; es ist fast Mittag, aber heute ist nicht viel los. Die Sonne scheint durch die großen Fenster herein und wir trinken Kaffee. Obwohl Alexander F. leise spricht, ist seine Stimme fest, sein Blick standhaft. „Einen Monat lang hab‘ ich abwechselnd im Auto und im Hotel gewohnt – im Hotel immer am Wochenende, weil da meine Tochter bei mir war. Zum Glück hat es nicht lange gedauert. Nach vier Wochen kam der Anruf, dass ich ins neunerhaus Hagenmüllergasse einziehen kann.“ Dort kommt er zur Ruhe und fühlt sich wohl, aber sein Wunsch ist klar: möglichst schnell wieder in eine eigene Wohnung einziehen.

Ihm gegenüber sitzt Thomas Poppinger, der als Sozialarbeiter im Bereich Housing First dafür zuständig ist, Menschen auf ihrem Weg in eine eigene Wohnung zu begleiten: Von der Wohnungsbesichtigung, Mietvertragsunterzeichnung, Schlüsselübergabe, Organisation von Energieversorgung bis hin zum Umzug selbst unterstützt er seine Klient*innen. „Die Zusammenarbeit ist sehr unterschiedlich, weil die Menschen sehr unterschiedlich sind“, erzählt er. Manchmal begleitet er Einzelpersonen, manchmal Paare und Familien – sogar Familien mit mehr als zwei Generationen hat er schon betreut – oder alleinerziehende Eltern wie Alexander F. „Es gibt Menschen, die sehr wenig brauchen und klar kommunizieren. Und dann gibt es andere, die aufgrund ihrer Lebenslage viel mehr Unterstützung brauchen. Manche Krisensituationen erfordern regelmäßigen und engeren Kontakt.“ Auch nach dem Einzug können Mieter*innen sich mit Fragen und Problemen an ihn wenden. Zudem wird er über das Mietenmonitoring informiert, wenn es zu Mietrückständen kommt. Dann meldet er sich bei den Mieter*innen und bietet Unterstützung an.

„Das Schönste war zu wissen: Das ist jetzt meins. Da muss ich nicht wieder gehen.“

– Alexander F.

Thomas Poppinger hat Alexander F. beim Umzug in die eigene Wohnung unterstützt. Weil der Neubau noch nicht fertig war, musste Alexander F. einige Wochen auf die Schlüsselübergabe warten. „Jedes Mal, wenn wir uns gesehen haben, hat Herr F. gesagt: Jetzt sind es noch sechs Wochen! Jetzt sind‘s noch drei! Wir haben gemeinsam auf den Umzug hin gefiebert“, erzählt Thomas Poppinger und lacht. „Ich hab Herrn F. als einen sehr selbstständigen Menschen kennen gelernt, der genau gewusst hat, was er von mir braucht und was er nicht braucht. Wir waren gut im Gespräch miteinander, ohne eine sehr enge Betreuungsbeziehung. Ich habe einfach dort unterstützt, wo er es gebraucht hat“, erzählt Thomas Poppinger. Alexander F. meint: „Für mich war immer wichtig, dass ich selbstständig bleibe. Trotzdem war es gut zu wissen, dass ich mich melden kann, wenn irgendwas ist oder ich etwas brauche. Auch das Mietenmonitoring wollte ich beibehalten, als Sicherheit im Hintergrund. Ein kleiner Rettungsschirm. Da kann so schnell nix mehr passieren.“ Er erinnert sich an den Umzug aus der Hagenmüllergasse in seine eigene Wohnung im 22. Wiener Gemeindebezirk: „Zu wissen, man kriegt einen Schlüssel, man zieht ein und sagt: Das ist jetzt meins. Da muss ich nicht wieder gehen. Das war der schönste Moment – die Schlüsselübergabe“, erzählt Alexander F.

Thomas Poppinger und Alexander F. © Christoph Liebentritt

Als die Pandemie begann, gelang es Marianne R., aus der Prostitution auszusteigen. Endlich – zuvor hatte sie es bereits vergeblich versucht. „Der Lockdown kam und da war der Job vorbei“, erinnert sie sich an diese Zeit. Insgesamt neun Jahre hatte sie in Studios und Laufhäusern gearbeitet und gelebt, wo die Miete für ein Zimmer so hoch war, dass sie sich keine eigene Wohnung zusätzlich leisten konnte. „Ich habe mich mit der Zeit immer unwohler gefühlt und wollte aussteigen. Beim zweiten Mal hab‘ ich gleich eine Postadresse bekommen und nach ein paar Monaten kam der Anruf, dass es ein Zimmer für mich gibt“, erzählt sie. Marianne R. zog zuerst in ein so genanntes Chancenhaus, in dem wohnungslose Menschen unmittelbar und unbürokratisch eine Unterkunft bekommen und sich innerhalb weniger Wochen eine längerfristige Perspektive erarbeiten. Dann wurde ihr eine eigene Wohnung vermittelt. Über ihre Sozialarbeiterin hat sie vom neunerhaus Peer Campus erfahren – und damit von der Möglichkeit, mit dem eigenen Erfahrungswissen in der Wohnungslosenhilfe als Peer zu arbeiten.

Es tut einfach gut, wenn jemand sagt: ‚Du wirst das schaffen, ich glaube an dich.‘

– Johanna Gabriel

„Beim Bewerbungsverfahren für den Peer-Kurs ist mir Marianne zum ersten Mal aufgefallen“, erzählt Johanna Gabriel, die den Zertifikatskurs Peers der Wohnungslosenhilfe leitet. Heute sitzt sie gemeinsam mit Marianne R. auf einer Parkbank im 5. Wiener Gemeindebezirk. Im Gespräch mit den beiden wird schnell klar, dass sie sich gut kennen und sehr vertraut miteinander umgehen. „Marianne hat uns am Bewerbungstag sehr beeindruckt. Und auch im Kurs dann zu beobachten, wie sie gewachsen ist – das war schön“, berichtet Johanna Gabriel. Als Kursleitung begleitet sie jedes Jahr zwanzig Teilnehmende. In der Ausbildung geht es vor allem darum, die eigenen Erfahrungen mit der erlebten Obdach- oder Wohnungslosigkeit zu reflektieren und zu lernen, wie man mit diesem Wissen Menschen unterstützen kann, die aktuell wohnungslos sind. „Die Gruppen im Kurs sind sehr vielfältig: unterschiedlichste Geschichten, unterschiedlichste Lebensläufe, unterschiedlichste Gründe, wieso Menschen wohnungslos werden. Sei es – wie bei Marianne – über die Sexarbeit, sei es eine Suchterkrankung, Flucht, eine Gewaltbeziehung oder etwas ganz anderes. Was die Peers aber alle mitbringen, ist ein besonderes Engagement, eine große Motivation und die Lust, gemeinsam zu lernen.“

Für viele Teilnehmende ist der Kurs eine intensive Erfahrung: Zum Programm gehören Seminare vor Ort, Gruppenarbeiten, ein Praktikum, verpflichtende Reflexionstermine und eine Abschlussarbeit. Daraus folgt auch eine persönliche Weiterentwicklung: „Meine größte Veränderung durch den Kurs war, dass ich mich mit der Zeit mehr eingebracht und gesagt hab‘, was ich mir denke – auch, wenn es nicht allen gepasst hat. Ich habe mehr Selbstbewusstsein entwickelt“, sagt Marianne R. Ein schönes Erlebnis, erzählt sie, war die Präsentation ihrer Abschlussarbeit, vor der sie großen Respekt hatte. „Wir haben vorher viel diskutiert“, erinnert sich auch Johanna Gabriel. „Ich habe ihr Potential gesehen und wollte ein Umfeld schaffen, in dem sie dann trotz Nervosität die Präsentation halten kann. Man kennt es von sich selbst ja auch: Manchmal traut man sich Sachen nicht zu und will in seiner Komfortzone bleiben. Dann tut es einfach gut, wenn jemand sagt: ‚Du wirst es gut machen, ich glaub‘ an dich.‘ Marianne hat es schlussendlich gemacht und es war grandios!“. Nach einer siebenmonatigen Ausbildung ist Marianne R. heute Peer-Mitarbeiterin in jenem Chancenhaus, in dem sie vorher selbst gelebt hat.

Marianne R. und Johanna Gabriel © Christoph Liebentritt

Dieser Beitrag erschien erstmals im Magazin neuner News, Ausgabe 48.