Gesundheitsversorgung für wohnungslose Frauen

Im neunerhaus Gesundheitszentrum wird Gesundheit und Soziales zusammengedacht. Ein Beitrag von Paula Reid

Die Praxis zeigt, dass die spezifischen Lebenswelten von wohnungslosen Frauen, z.B. eine fehlende Krankenversicherung, Sprachbarrieren, Gewalterfahrungen oder soziale Beziehungsarmut, zu Hürden und Barrieren führen können, die den Zugang zu Gesundheitsdiensten erschweren. Diese Situation hat sich durch die Pandemie noch weiter verschärft.

Im Jahr 2020 waren in Wien 3.583 Frauen offiziell als wohnungslos oder obdachlos registriert (Statistik Austria 2022). Die tatsächliche Zahl ist vermutlich viel höher, da Frauen häufiger von versteckter Wohnungslosigkeit betroffen sind und eher informelle Lösungen finden, als sich an die Wohnungslosenhilfe zu wenden (Bretherton/Maycock 2021). Viele von ihnen haben auch keine Krankenversicherung. Auch wenn offizielle Zahlen fehlen, gehen Schätzungen davon aus, dass in Österreich Zehntausende Menschen ohne gültige Krankenversicherung leben (Fuchs et al. 2017). Betroffen sind u. a. prekär beschäftigte EU-Bürger*innen, Asylwerbende nach einem Bundeslandwechsel oder mitversicherte Partner*innen nach einer Scheidung oder einem Todesfall, was fast ausschließlich Frauen betrifft (Fuchs et al. 2017).

Insbesondere in den ersten Lockdowns im Jahr 2020 und den ersten Monaten der Pandemie war der Zugang zur Gesundheitsversorgung für vulnerable Gruppen wie wohnungslose Frauen beeinträchtigt. Viele niederschwellige Gesundheitsdienste wurden reduziert oder auf Telemedizin umgestellt, was zu hochschwelligeren Zugangsbedingungen führte. Darüber hinaus wurden viele andere gesundheitsfördernde und soziale angebote, wie z.B. tagesstrukturierende Aktivitäten zur psychischen Entlastung, stark eingeschränkt (Unterlerchner et al. 2020). Die Pandemie führte auch zu einem höheren Bedarf an Informationen und Unterstützung beim Einhalten der sich ständig ändernden Maßnahmen. Im neunerhaus Gesundheitszentrum stieg die Zahl solcher Orientierungsgespräche zwischen Dezember 2020 und Juni 2021 um 55% (neunerhaus 2021).

In der Praxis Psychische Gesundheit unterhalten sich drei Personen
© Christoph Liebentritt

Das neunerhaus Gesundheitszentrum steht obdachlosen, wohnungslosen und nicht versicherten Menschen offen. Es umfasst eine Arztpraxis, eine Zahnarztpraxis, eine Praxis Psychische Gesundheit sowie Pflege, Sozialarbeit und PeerArbeit. Menschen, die zu uns kommen, haben häufig neben medizinischen Anliegen auch eine Reihe von komplexen sozialen Problemlagen. Im Jahre 2021 wurden 1.708 Frauen im Gesundheitszentrum behandelt, 85% davon waren nicht versichert (neunerhaus 2022). Spürbar war die deutliche Zunahme von psychischen Belastungen unter unseren Patient*innen. Die psychischen Folgen der Pandemie sind für Frauen mit geringem Einkommen besonders stark – Frauen im unteren Einkommensdrittel waren am häufigsten von einer Verschlechterung ihrer psychischen Gesundheit betroffen (Zandonella 2021). In der neunerhaus Praxis Psychische Gesundheit berichteten 52% der Frauen über Stress im Vergleich zu 27% der Männer (neunerhaus 2022). Zudem war im Gesundheitszentrum auch ein deutlicher Anstieg der Zahl an gewaltbetroffenen Frauen zu verzeichnen. Zentral für die Unterstützung dieser Frauen ist der Beziehungsaufbau durch die niederschwellige Sozialarbeit. Sozialarbeiter*innen arbeiten mit den Betroffenen an der Stärkung von deren Selbstvertrauen, der Klärung von Perspektiven und Handlungsmöglichkeiten und setzen bei Bedarf Videodolmetsch ein, um Sprachbarrieren zu überwinden. Diese Beziehungsarbeit und der daraus resultierende Vertrauensaufbau sind ein Schlüsselelement unserer Arbeit mit wohnungslosen Frauen.

Die Pandemie hat gezeigt, wie prekär der Zugang zu Gesundheitsversorgung für wohnungslose Frauen ist und warum wir Gesundheit und Soziales nicht voneinander trennen können. Gebraucht werden interdisziplinäre Angebote ohne bürokratische oder administrative Hürden, in die auch Sozialarbeit und Pflege eingebettet sind, ergänzt durch Dolmetschangebote. Eine wichtige Rolle nimmt dabei die Beziehungsarbeit ein, damit sich die Frauen sicher fühlen. Dadurch können wir sicherstellen, dass auch in Krisenzeiten das Recht auf Gesundheitsversorgung für wohnungslose Frauen gewahrt bleibt.

Literatur- und Quellenangaben

Bretherton, Joanna/Mayock, Paula (2021): Women’s homelessness: European evidence review.
Brussels: FEANTSA

Fuchs, Michael/Hollan, Katharina/Schenk, Martin (2017): Analyse der nicht-krankenversicherten Personen in Österreich. Endbericht. Wien

neunerhaus (2021): Inklusion ins Sozial- und Gesundheitssystem sichern durch niederschwellige
Sozialarbeit während der COVID-19 Pandemie. Endbericht. Unveröffentlichter Projektbericht

neunerhaus (2022): Interne Zahlen des neunerhaus Berichtwesens

Statistik Austria (2022): Sonderauswertung der Statistik des Bevölkerungsstandes (2020) im
Auftrag von neunerhaus, unveröffentlicht

Unterlerchner, Barbara/Moussa-Lipp, Sina/Christanell, Anja/Hammer, Elisabeth (2020):
Wohnungslos während Corona. In: juridikum, 3/395-406

Zandonella, Martina (2021): Follow-up zur psychosozialen Situation der WienerInnen während
der Pandemie. Wien: SORA

Der originale Beitrag kann hier heruntergeladen werden.

Paula Reid ist Referentin für Gesundheit in der Stabsstelle Grundlagen und Innovation bei neunerhaus.