„Ich bin ein Peer“

Vorwort von Burkhard W. zur Publikation PEER we are! Einblick in die Peer-Arbeit in der Wohnungslosenhilfe

Ich bin ein Peer. Ich liebe Peer-Arbeit. Wäre ich kein Peer, wäre ich ein Fan der Peer-Arbeit. Vorausgesetzt ich wüsste von ihr. Peer-Arbeit kann viel. Peers sind Menschen mit wertvollen Lebenserfahrungen. Peers sind mit viel Herz und Einsatz für Menschen in Not da. Peers sind Antreiber*innen für notwendige Veränderung, Peers rütteln wach.

Ich würde es wieder tun! Wohnungslos werden? Nie und nimmer! Aber auf der Suche nach mir selbst meine alte bürgerliche Identität ablegen, ja. Dafür mein „besseres“ Leben hergeben? Nicht freiwillig. Plötzlich stand ich da, hatte so ziemlich alles verloren, nicht aber meine Würde. Nach und nach habe ich etwas verinnerlicht, was ich Stolz der Straße nennen würde. Dieser besondere Stolz bezieht sich auf all die Erfahrungen, die in abgesicherten Lebensverhältnissen nicht zu machen sind. Und auf den täglichen Überlebenskampf, dem Leben Tag für Tag zu trotzen, einen weiteren Tag abzuringen ohne zu wissen, wie es weitergehen soll. Als Peer lässt es sich stolz sein auf Erfahrungen, für die unsere Gesellschaft nur Schamgefühle vorgesehen hat.

Heute habe ich einen sicheren Job. Einst hatte ich einen sicheren Job. Als ich ihn verlor, lag mein Leben schnell in Scherben da. Sicherheit ist mir zum neuen Lebensgefühl geworden. Durch Wohnung und Peer-Job. Peer-Arbeit macht ein Leben in Sicherheit erreichbarer für Menschen ohne Zuhause. Real oder auch nur psychologisch. Das Vorbild wirkt.

Mit dem Peer-Zertifikat in der Hand kann sich ein Traum verwirklichen… Wer will nicht nützlich sein, als wertvolles Mitglied der Gesellschaft angesehen werden? Und das nach furchtbar entwürdigenden Erfahrungen mit dem Stigma Obdach- und Wohnungslosigkeit. Der Traum bedeutet auch: „Ich sehe und erkenne dich in deiner Not. Ich bin für dich da.“ Für Peers sind dabei die zu betreuenden Menschen nicht einfach nur Nutzer*innen, sondern Leidensgenoss*innen, auch wenn die eigene Leidenserfahrung der ähnlichen Lebenssituation schon in der Vergangenheit liegt.

Eine Person liest die Peer Publikation, man sieht ihr über die Schulter
© Christoph Liebentritt

Hat es jemand einmal aus Obdach- oder Wohnungslosigkeit in den Peer-Kurs geschafft, ist eine Anstellung als Peer bereits in greifbare Nähe gerückt. Eine professionelle Peer-Identität entwickelt sich. Im Praktikum kann ich mich in der neuen Rolle ausprobieren, erlebe mich als Teil eines Teams. Für mich war es ein erhebendes Gefühl, Kollege von Sozialarbeiter*innen zu sein anstatt Nutzer. Gleichzeitig war ich zutiefst berührt, Nutzer*innen in der professionellen Rolle zu begleiten, ihnen hilfreich zur Seite zu stehen als Vertrauensperson. Das stärkte zugleich mein Selbstbewusstsein, um das ich im Team ringen musste.

Für jetzt gilt: Wie kann ich mein Erfahrungs-wissen einsetzen? Manche Peers geben ihre Antwort einfach im Tun, andere stellen sich zuerst Fragen und überlegen, was es für eine Entwicklung der Peer-Rolle noch braucht. Gemeinsam arbeiten wir am Peer-Projekt. Die Vielfalt unter den Peers ist der beste Entwicklungsmotor, denn sie fordert uns dazu heraus, uns zu öffnen für andere Sichtweisen und Perspektiven. Das gilt nicht nur für Teams, in denen Peers arbeiten, sondern auch für Peers untereinander. Peers brauchen einander zur Entwicklung, zum gemeinsamen Reflektieren und für die Peer-Identität.

Dabei geht es auch um den Umgang mit vielen Fragen, die über Peers kursieren und manchmal auch direkt gestellt werden: neugierige, offene, ermutigende; zweifelnde oder gar herabwürdigende. Für Medien, die gerne auch einmal das Thema Peer-Arbeit in der Wohnungslosenhilfe aufgreifen, stellt sich die Frage: Wie schlagen sich ehemals Betroffene als Professionelle? Die Antwort sollte eigentlich sein: Wir schlagen uns nicht, denn wir sind friedliebende Menschen. Und arbeiten wie andere Menschen auch.

Der Begriff „Peer“ stammt aus em Englischen und lässt sich mit „Gleichrangige*r“, „Gleiche*r“ oder „Gleichgestellte*r“ übersetzen. Der Begriff wird in verschiedenen Kontexten verwendet, zum Beispiel, um gleichaltrige Menschen oder Menschen einer bestimmten Berufsgruppe zu beschreiben. In Zusammenhang mit der Peer-Arbeit ist ein*e Peer jemand, der*die selbst ähnlcihe Lebenssituationen erlebt hat wie die Menschen, denen er*sie jetzt Unterstützung anbietet. Zum Beispiel ist ein*e Peer der Wohnungslosenhilfe eine Person, die selbst Erfahrung mit Obdach- und Wohnungslosigkeit gemacht hat und jetzt mit Menschen arbeitet, die aktuell mit Wohnungs- oder Obdachlosigkeit konfrontiert sind. (Utschakowski, 2016, S. 16)

Peers sind in der Regel Quereinsteiger*innen, (Spät-) Berufene, die erst einmal unter die Lupe genommen werden. Wo Peer-Arbeit schon bekannter ist, gibt es aber auch Vorschusslorbeeren und Anerkennung des Erfahrungswissens. Peers wissen, wie aus der Not eine Tugend gemacht werden kann. Das ist nicht zu unterschätzen. Wir wollen mehr als einfach nur mit Vorurteilen aufräumen und gegen Stigmatisierung ankämpfen! Wir können mehr als nur „eine weitere Berufsgruppe“ in der Wohnungslosenhilfe sein. Es geht auch nicht nur darum, ein bisserl mitzureden. Wir wollen gemeinsam etwas bewegen. Unsere leidvollen Erfahrungen treiben uns an, in System und Gesellschaft Dinge zum Besseren zu verändern. Zum Besseren für armutsbetroffene und ausgegrenzte Menschen bedeutet zum Besseren für alle. Das gilt es im gesellschaftlichen Bewusstsein zu verankern.

Jedes System hat seine eigenen Regeln und Funktionsweisen. Das Leben oftmals entgegengesetzte. Systeme verlangen von Menschen ein hohes Maß an Anpassung, die in vielen Fällen nicht gelingen kann, weil Menschen Individuen und keine Maschinen sind. Scheitern ist menschlich. Zugleich kann Scheitern am System Gelingen im Menschsein bedeuten. Und umgekehrt.

Peer-Arbeit bringt die Lebensrealität von Menschen, die ein gesellschaftliches Rand-Dasein führen (müssen), mitten in die Systemwelt hinein. Ein großer Widerspruch in sich einerseits, gleichzeitig ein Akt der Versöhnung, vielleicht der Wiedergutmachung. Eine große Chance, ein System menschlicher zu gestalten, den Bedürfnissen und Realitäten menschlicher Individuen näher zu bringen. Ich denke, dass etwas, das im System Wohnungslosenhilfe „Schule macht“ auch in anderen Systemen greifen kann.

Utschakowski, J. (2016). Peer-Support: Gründe, Wirkungen, Herausforderungen. In J. Utschakowski, G. Sielaff, T. Bock & A. Winter (Hrsg.). Experten aus Erfahrung: Peerarbeit in der Psychiatrie (S. 16-25). Köln: Psychiatrieverlag.

Dieser Text ist erstmals in der Publikation PEER we are! Einblick in die Peer-Arbeit in der Wohnungslosenhilfe entstanden