Stephan Gremmel versorgte als Arzt obdach- und wohnungslose Menschen im neunerhaus Gesundheitszentrum. Als Teil der Geschäftsleitung setzt er sich weiterhin für das Recht auf eine Gesundheitsversorgung für alle ein. Hier beantwortet er sieben Fragen.
neunerhaus: Was gehört für dich zum Gesundsein dazu und fühlst du dich heute gesund?
Stephan Gremmel: Das ist gar keine so einfache Einstiegsfrage (lacht). Grundsätzlich finde ich die Definition der WHO (Anm. Weltgesundheitsorganisation) gut: Gesundheit ist mehr als die Abwesenheit von Krankheit, nämlich ein Zustand vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens. Wenn du mich ganz persönlich fragst, fühle ich mich gesund, wenn ich in der Früh aufstehe, das Gefühl habe, im Gleichgewicht zu sein und wenn mir nichts weh tut. Heute geht es mir sehr gut und abgesehen von einem Wehwehchen, das mich schon seit einiger Zeit plagt, fühle ich mich gesund.
neunerhaus: Österreichs Gesundheitssystem liegt im weltweiten Vergleich sehr weit vorne. Warum braucht es gesundheitliche Versorgung und medizinische Hilfe von neunerhaus?
Es gibt einfach Menschen, die keinen Zugang zur richtigen Versorgung, zum richtigen Zeitpunkt, am richtigen Ort haben. Da setzen wir an und versuchen den Menschen das zu geben, was sie brauchen und medizinisch sinnvoll ist. Und zwar ohne Einschränkungen, in vollem Umfang und unabhängig davon, ob sie gerade versichert sind.
neunerhaus: Was sind aktuell die drängendsten Herausforderungen in der gesundheitlichen Versorgung von obdach- und wohnungslosen sowie nichtversicherten Menschen?
Zwei Dinge: Einerseits gibt es im Pflegebereich de facto kein Angebot für obdach- und wohnungslose Menschen, die nicht versichert sind. Im neunerhaus Gesundheitszentrum haben wir deshalb ein ambulantes Pflegeangebot, das auch sehr gut angenommen wird.
Andererseits besteht auch in der psychiatrischen und psychosozialen Versorgung ein Ressourcenengpass. Es gibt kaum niedergelassene Psychiater*innen, die noch Kassenpatient*innen aufnehmen, die Wartezeiten sind sehr lang. Die stationären Angebote kommen häufig an ihre Belastungsgrenze. Der Engpass in der psychiatrischen Versorgung ist ein Problem, auch für die Wohnungslosenhilfe. Denn viele Menschen, die ihr Zuhause wegen oder mit einer psychiatrischen Erkrankung verlieren und in eine Einrichtung der Wohnungslosenhilfe kommen, finden dort nicht das, was sie brauchen. Das ist für das System belastend, das ist für den Einzelnen nicht gut. Wenn zu einer psychiatrischen Diagnose andere Erkrankungen und akute Wohnungslosigkeit hinzukommen, wird es wirklich schwierig.
Überall dort, wo es schon schwer ist, die Versorgung für die Allgemeinbevölkerung aufrechtzuerhalten, werden die Systeme für vulnerable Gruppen automatisch ausschließender.
Stephan Gremmel über Engpässe in der Gesundheitsversorgung und ihre Konsequenzen für die Bevölkerung und für vulnerable Gruppen.
neunerhaus: Welches Angebot hat neunerhaus für obdach- und wohnungslose Menschen, denen es psychisch nicht gut geht?
Um auf die zunehmende psychische Belastung unserer Nutzerinnen während der Pandemie zu reagieren, haben wir die Praxis Psychische Gesundheit entwickelt. Hier setzt ein interdisziplinäres Team aktiv ein Gesprächsangebot für Menschen, die ins neunerhaus Gesundheitszentrum kommen und psychisch belastet wirken. Wir haben hier ein sehr niederschwelliges Angebot: Einzelgespräche, Gruppenangebote bis hin zur psychiatrischen Behandlung. Unsere Beratungsstellen Housing First und Mobil betreutes Wohnen werden um Fachkräfte für Psychosoziale Gesundheit ergänzt, die Gesundheit und Soziales zusammendenken. Gemeinsam mit den Nutzerinnen priorisieren wir: Was ist denn gerade vordergründig, was ist der erste Schritt, damit auch andere Schritte möglich werden?
Gesundheitliche, wirtschaftliche und soziale Probleme bestehen oft gleichzeitig und blockieren sich gegenseitig. Deshalb wollen wir integrierte Versorgung anbieten und sind in diesen Bereichen tätig
Stephan Gremmel erklärt, warum Gesundheit auch immer eine soziale Komponente hat.
neunerhaus: Du bist seit 2015 bei neunerhaus. Was hat sich in der Versorgung obdach- und wohnungsloser und nichtversicherter Menschen getan? Was hat sich verändert?
Die Menschen, die zu uns kommen, sind stärker belastet, ihre Probleme tendenziell komplexer. Damit sind auch unsere interdisziplinären Teams immer stärker gefordert.
neunerhaus: Welche Patient*innen-Geschichte ist dir aus der Zeit als ärztlicher Leiter im neunerhaus Gesundheitszentrum in Erinnerung geblieben?
Einer meiner ersten Patienten war ein junger Mann aus Somalia. Das war 2015. Er war schwer traumatisiert, hatte sichtbare Folterverletzungen und wohnte ganz prekär. Wir haben ihn über viele Jahre im Gesundheitszentrum begleitet, wir haben sozialarbeiterisch interveniert, zu Hemayat (Anm. Betreuungszentrum für Folter- und Kriegsüberlebende) vermittelt, wo er eine Traumatherapie bekommen hat. Dieser Mann ist mir vor Kurzem zufällig in der Stadt begegnet. Er ist mir mehr oder weniger um den Hals gefallen, hat sich bedankt und stolz Fotos von seinen Kindern und seiner Gemeindewohnung am Handy präsentiert. Das hat mir wieder gezeigt, was möglich ist, wenn man sich dem Menschen widmet.
neunerhaus: Was motiviert dich in deiner täglichen Arbeit?
Die erste leichte Frage (lacht). Ich bin davon überzeugt, dass jede*r das Recht auf Gesundheitsversorgung hat. Und zwar die bestmögliche. Das ist meine Grundüberzeugung.