Jung und obdachlos

Das neunerhaus Billrothstraße bietet jungen obdachlosen Menschen die Chance, wieder in ein selbstständiges Leben zu finden. Was das in der Praxis bedeutet, zeigt uns Nina Novotny. Sie hat in ihrer Jugend selbst Obdachlosigkeit erlebt und arbeitet jetzt bei neunerhaus.

Es ist ein ruhiger Montagnachmittag im neunerhaus Billrothstraße, einem denkmalgeschützten Altbau mit dicken Mauern und Türen aus Holz. Manchmal hört man Stimmen von Bewohner*innen, die sich am Gang unterhalten. Die Tür zum Büro von Peer-Mitarbeiterin Nina Novotny ist offen, sie packt gerade ihre Tasche. Am Gang steht schon Sascha V., den sie heute zu einer Wohnungsbesichtigung begleitet – wir dürfen dabei sein.

Seit zwei Monaten lebt Sascha V. im neunerhaus Billrothstraße, wo junge obdachlose Menschen einen Ort zum Ankommen finden. Der Zugang ist unbürokratisch: Wenn ein Platz frei ist, wird man aufgenommen, vorausgesetzt, man ist zwischen 18 und 30 Jahre alt. Bewohner*innen haben für drei Monate einen fixen Wohnplatz und die Chance, sich mit Unterstützung von Sozialarbeiter*innen, Betreuer*innen und Peer-Mitarbeiterin Nina Novotny eine langfristige Perspektive zu erarbeiten. Dabei geht es in erster Linie darum, einen anschließenden Wohnplatz zu finden, aber auch Themen wie Arbeitssuche, Ausbildung, Freizeitgestaltung und Gesundheit werden – je nach Bedarf – gemeinsam angegangen.

© Christoph Liebentritt

Wir machen uns auf den Weg, spazieren die Billrothstraße hinunter zur U-Bahn-Station, fahren dann in einen anderen Bezirk. Beim Haus werden wir bereits von zwei Sozialarbeitern einer anderen Sozialorganisation erwartet, die dort eine WG für junge Erwachsene betreibt. Es gibt einen Lift, aber wir nehmen die Stiege und treten oben in eine helle, sehr große Wohnung. Sie ist frisch renoviert, von den fünf Zimmern sind bisher nur drei belegt. Sollte Sascha V. hier einziehen, könnte er mehrere Jahre lang bleiben.

Dass die Wohnung leistbar und vor allem langfristig ist, ist für Nina Novotny und die beiden Sozialarbeiter entscheidend: „Zu wissen, dass man bald ausziehen muss, erzeugt einen enormen Druck bei den Menschen. Viele tragen große Rucksäcke voller teils schwieriger Erfahrungen und Probleme mit sich herum und brauchen einfach mehr Zeit, um sich wieder ein selbstständiges Leben aufzubauen.“ Aber um eine Wohnung zu finden, die die passenden Rahmenbedingungen bietet, braucht es Zeit. Zeit, die die Bewohner*innen im neunerhaus Billrothstraße verbringen können – denn auf der Straße und auf sich allein gestellt gestaltet sich die Wohnungssuche schwierig. Durch das Stigma, das Obdachlosigkeit immer noch anhängt, sind junge Erwachsene mit Nachteilen am Arbeitsmarkt und bei der Wohnungssuche konfrontiert – oft auch noch viele Jahre später, wenn sie längst wieder ein selbstständiges Leben führen. Um Sascha V. davor zu schützen, haben wir für diese Geschichte seinen Namen geändert. Fotografiert werden möchte er nicht.

Sascha V. ist groß und „teddy-bärig“, friedlich und sehr höflich. Er spricht wenig, erzählt nur die Eckdaten: Im fünften Bezirk hat er in einer WG gelebt, die dann aufgelöst wurde, so kam er auf die Straße. Über seinen Vater bekommt er manchmal Arbeit – Gelegenheitsjobs, von denen er aber nicht leben kann. Er ist ein bisschen gestresst, weil er sich nach der Besichtigung noch mit einem Freund trifft. Jetzt folgt er einem der Sozialarbeiter, der ihm die Wohnung zeigt: eine große Küche, zwei Badezimmer, zwei Wohnzimmer mit Sofas und einem großen Esstisch. Weil die Wohnung erst seit kurzem bewohnt ist, ist die Einrichtung noch karg. Aber in jedem Zimmer gibt es das Nötigste: Bett, Schreibtisch mit Stuhl, Kasten. Sascha V. darf natürlich auch eigene Möbel mitbringen, sagt der Sozialarbeiter.

© Christoph Liebentritt

„Viele Jugendliche, die obdachlos sind, haben eine psychische Erkrankung, zum Beispiel eine Angststörung“, erzählt Nina Novotny. „Sie sind zudem in gewissen sozialen Situationen noch nicht wirklich kompetent. So wissen zum Beispiel viele nicht, wie man sich auf Ämtern verhält, weil es ihnen niemand beigebracht hat. Auch einfache Sachen wie Haushaltsversicherungen oder wie man einen Haushalt führt, wie man eine Bewerbung schreibt, wissen junge Erwachsene oft nicht. Andere Kinder bekommen das von zuhause mit, obdachlose Jugendliche müssen es sich selbst aneignen“, erklärt sie. Nina Novotny spricht aus eigener Erfahrung: In ihrer Jugend hat sie selbst Obdachlosigkeit erlebt. „Ich bin mit 14 von Zuhause weggegangen. Meine Mutter war Alleinerzieherin und ich habe mich viel mit ihr gestritten. Als ich auf der Straße war, waren alle Notschlafstellen für Erwachsene. Ich habe immer irgendwo in einem Park oder in leerstehenden Gebäuden geschlafen, oder in der Waggonie, dort, wo die Züge zu Reparatur- oder Wartungszwecken stehen. Gefährlich ist es als Frau immer auf der Straße, aber als Jugendliche*r ist es noch gefährlicher, weil man naiver ist. Man vertraut Menschen und hinterfragt diejenigen, die einem helfen wollen, nicht. Da kann man schnell in gefährliche Situationen geraten“, berichtet sie.

Damit junge Menschen nicht in solchen prekären Situationen leben müssen, braucht es Angebote, die auf sie zugeschnitten sind. Seit Jänner 2023 ist das neunerhaus Billrothstraße das erste Chancenhaus spezifisch für Menschen zwischen 18 und 30 Jahren in ganz Wien. Hier gibt es Wohnplätze für 41 Personen. Die meisten leben in Einzelwohnungen, manche auch in Doppeleinheiten. Aktuell ist ein Drittel der Bewohner*innen weiblich – für sie gibt es einen geschützten Bereich, der abgetrennt und nach Bedarf genutzt werden kann. Im neunerhaus Billrothstraße arbeiten die Bewohner*innen unterstützt von einem multiprofessionellen Team an der Entwicklung einer für sie passenden Wohnperspektive. „Junge Menschen wissen oft noch nicht so genau, wohin es gehen soll. Das versuchen wir gemeinsam mit ihnen herauszufinden“, erklärt Nina Novotny. „Sie sind oft sehr ehrlich und arbeiten offen mit uns, sodass wir meist wissen, wo wir genauer hinschauen müssen. Bei älteren Menschen ist es manchmal so, dass sie nicht alles gleich erzählen oder Dinge für sich behalten. Diese Offenheit erleichtert die Arbeit mit jungen Menschen.“ Obwohl er nicht viel redet, scheut sich auch Sascha V. nicht, seine Probleme offen anzusprechen.

Vor der Wohnungstür verabschieden sich die Sozialarbeiter und Nina Novotny fragt Sascha V., ob er sich vorstellen kann, hier einzuziehen. Bisher hat er meist den Blickkontakt gemieden, jetzt schaut er sie an und lächelt, zeigt den Daumen hoch. Nina Novotny lacht. Wir sind gerade auf die Straße getreten, Sascha V. schaut nervös auf die Uhr. „Du kannst dich auf den Weg zu deinem Freund machen“, sagt sie. Er bedankt sich und geht schnellen Schrittes in Richtung U-Bahn-Station davon.

Wir helfen, wo Unterstützung fehlt„“Es geht darum, einen Ort zu schaffen für Menschen, die sich in einer Neuorientierung befinden. Dazu braucht es Beratung, Austausch und Mitgefühl. Aus meiner Sicht ist das im neunerhaus Billrothstraße sehr gelungen“, sagt Spenderin Frau G. Bitte spenden auch Sie, damit junge Erwachsene jene Unterstützung erhalten, die sie dringend brauchen!

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Dieser Beitrag ist erstmals in den neuner News #50 erschienen.