Sie sind da, aber man sieht sie nicht. Wohnungslose Frauen fallen im öffentlichen Raum nur selten auf. Eine Reportage.
„Das ist mein Lieblingsplatz“, sagt Esma M. Die 35-Jährige sitzt in der Küche ihrer akkurat aufgeräumten Wohnung und schaut auf den Donaukanal. Vor ihr auf dem Tisch liegen Feuerzeug, Notizzettel und FFP2-Masken. Hinter ihr liegen Jahre, in denen ihr Leben ein einziges Durcheinander war. Die gelernte Einzelhandelskauffrau erkrankt am Borderline-Syndrom, durchlebt starke Stimmungsschwankungen – himmelhoch-jauchzend, zu Tode betrübt.
Als ihr Vermieter ihr überraschend die Wohnung kündigt, verliert sie den Halt. Esma M., zu diesem Zeitpunkt 30 Jahre alt und Mutter eines kleinen Sohnes, ist plötzlich wohnungslos. Gegen die Kündigung angehen? Dazu fehlt ihr die Kraft. „Ich war vollgedröhnt mit Antidepressiva“, erinnert sie sich. Und: Sie hat Angst: „Ich wollte nicht, dass die Polizei reinplatzt und mein Kind das mitkriegt.“ Ihr Sohn ist damals sechs Jahre alt. „Du denkst nur daran, was für ein furchtbarer Mensch du bist. Jetzt hast du die Wohnung verloren! Du bist so eine schlechte Mutter!“
Couch statt Straße
Frauen verbergen oft ihre Wohnungslosigkeit, Frauen machen aber rund ein Drittel der wohnungslosen Menschen in Wien aus – der registrierten, denn die Dunkelziffer ist hoch. Dennoch bleiben Frauen in der Öffentlichkeit oft unsichtbar. Frauen, die in Gruppen trinkend zusammenstehen, kennt man nicht aus dem Straßenbild. Aus Schamgefühl, um ja nicht als wohnungslos etikettiert zu werden, geben sich Frauen viel Mühe, eine Fassade von Normalität aufrecht zu halten. Sie achten sehr auf ihr Äußeres und
versuchen ihre Notlage mit allen Mitteln zu verstecken. Statt auf der Straße landen Frauen daher oftmals auf einer Couch bei Freund*innen und Bekannten – nicht selten monatelang. So auch Esma. „Mir hat niemand angesehen, dass ich keine Wohnung habe“, sagt sie.
Das Problem: Obwohl sie in einer existenziellen Notlage sind, werden die Frauen von Angeboten der Wohnungslosenhilfe oft nicht erreicht. In den klassischen Nachtquartieren in Wien beträgt der Frauenanteil nur 17 Prozent – bei den Einrichtungen des betreuten Wohnens hingegen fast 50 Prozent. Notquartiere sind vielfach nicht auf die Bedürfnisse von Frauen ausgelegt, bieten nur wenig individuellen Schutzraum. Angebote, die sich allein an Frauen richten, sind rar.
Ausharren in Beziehungen
Doch wohin gehen sie? „Sie beginnen oft Beziehungen oder bleiben in zerrütteten Partnerschaften, um eine Wohnmöglichkeit zu haben. Meist leben sie nicht in abgesicherten Verhältnissen, wohnen nur mit“, sagt Elisabeth Hammer, neunerhaus Geschäftsführerin. So genannte Zweck- oder Zwangsgemeinschaften sind unter wohnungslosen Frauen weit verbreitet. Alles scheint besser, als die Nächte in einer Notunterkunft zu verbringen. Speziell wenn Kinder im Spiel sind, harren Frauen oftmals sehr lange in Beziehungen aus.
Dabei ist die Wohnung für Frauen oftmals kein sicherer Ort. Im Jahr 2019 wurden allein in Wien knapp 20.000 Fälle von häuslicher Gewalt gemeldet. 83 Prozent der Geschädigten waren Frauen und Mädchen. Das Pandemiejahr 2020 hat diese Entwicklung nochmals verschärft: Die österreichweite Frauenhelpline gegen Gewalt verzeichnete im März, April und Juni 2020 71 Prozent mehr Anrufe als im Jahresdurchschnitt.
Was Frauen hilft: eine eigene Wohnung. Ein Ort, an dem sie ankommen und ihr Leben neu sortieren können, selbstbestimmt. Das ist die Idee hinter dem neunerhaus-Angebot Housing First. Mieter*nnen bekommen eine leistbare Wohnung mit eigenem Mietvertrag, dann kümmert man sich um alles andere. 2020 betrug der Anteil der Frauen bei Housing First 54 Prozent. „In den eigenen vier Wänden kann man wirklich zur Ruhe kommen und wieder am gesellschaftlichen Leben teilhaben. Eine eigene Wohnung gibt Zukunftsperspektiven, Stabilität und Selbstvertrauen“, so Daniela Unterholzner, neunerhaus Geschäftsführerin.
Neuanfang mit fast 60 Jahren
Auch in den drei neunerhaus Wohnhäusern in Wien können wohnungslose Menschen einen Platz finden. So wie Nicoletta F., die seit 2019 im neunerhaus Hagenmüllergasse lebt. Der Frauenanteil hier: ein Drittel. „Es ist leider nicht aufgeräumt“, sagt Frau F. zur Begrüßung und stützt sich auf ihren Rollator, den sie scherzhaft „mein Mercedes“ nennt. An der Wand hängen Bilder mit Rosendruck, auf dem Küchentisch stehen Blumenvase, Medikamentendose und Kaffeetassen. Frau F. lässt sich in den Stuhl
fallen. Ob es stört, wenn sie rauche?
40 Jahre lang war sie verheiratet. Die drei Kinder sind längst erwachsen. Dann verändert sich ihr Mann. Die vergangenen Jahre seien „wie Krieg“ gewesen, sagt Nicoletta F. Sie streiten, er fühlt sich verfolgt, zahlt irgendwann die Miete nicht mehr – bis die Delogierung droht. Frau F. erleidet einen Herzinfarkt, den sie nur knapp überlebt. Danach steht fest: Sie muss etwas ändern. „Ich habe mir gedacht: Es steht nirgendwo geschrieben, dass ich nicht leben darf.“
Wird sie allein klarkommen?
Heimlich bewirbt sie sich um eine Gemeindebauwohnung, meldet sich als wohnungssuchend. Nichts passiert. Frau F. ist verzweifelt. Was, wenn wieder etwas mit ihrem Herz ist? Dann bekommt sie einen Anruf: Eine kleine Wohnung im neunerhaus Hagenmüllergasse ist frei. Sie kann gleich einziehen, wenn sie möchte. „Ich dachte, es regnet Gold vom Himmel!“, sagt sie und schlägt die Hände vors Gesicht. Ihre Koffer sind schon lange gepackt, gut versteckt. Ihr Mann versteht nicht, was passiert. „Er dachte erst, dass ich einen Witz mache. Dann hat er gemerkt, wie entschieden ich bin.“
Nach dem Umzug entspannt sich ihre Situation: „Ich habe es mir so gemütlich gemacht, wie ich konnte und fühle mich sicher. Wenn ich ein Problem habe, kann ich jederzeit jemanden rufen. Es ist mein kleines Zuhause.“ Doch schon bald steht ein weiterer Umzug an, dieses Mal hoffentlich für immer: Nicoletta F. wird in eine kleine Gemeindebauwohnung umziehen. Sie ist ebenso vorfreudig, wie verunsichert: Wird sie alleine klar kommen? Die Sozialarbeiter*innen von neunerhaus werden auch in der neuen Wohnung weiterhin für sie da sein. Ihr Ziel hat die 59-Jährige ohnehin fest im Blick: So selbstbestimmt leben, wie sie es sich wünscht.
Keinen Tag länger warten
Esma M. ist schon in ihren eigenen vier Wänden angekommen. Zunächst bekam sie eine Übergangs-Wohnung für ein Jahr – nun hat sie einen unbefristeten Mietvertrag. An die erste Nacht in der Wohnung erinnert sie sich gut: Außer einer Matratze auf dem Boden war da nichts. Dennoch wollte Esma sofort einziehen: „Ich wollte nicht mehr warten! Es war mein Boden, meine Wohnung. Das war mir so wichtig!“
Dass Esma M. heute so offen über ihre Erfahrungen spricht, hat einen Grund: Sie möchte anderen Frauen in ähnlichen Lebenssituationen zeigen, dass sie nicht allein sind. Dass der Verlust der Wohnung kein persönliches Versagen ist, sondern alle treffen kann. Dass jeder Mensch das Recht auf eine Wohnung hat. Noch etwas ist Esma wichtig: „Ich habe gelernt, dass ich auch schwach sein kann und darf. Ich muss nicht immer Xena, die Kriegerin sein.“
Dieser Text ist erstmals im Magazin neuner News #44 erschienen.