Im Jahresbericht 2022 blicken wir zurück auf ein Jahr im Bereich Gesundheit bei neunerhaus
„Meine Seele wurde genährt“, sagt Herr S., einer der 5.776 Patient*innen 2022 im neunerhaus Gesundheitszentrum, nach einem Gespräch mit einer Mitarbeiterin der neunerhaus Praxis Psychische Gesundheit. Mitten in der Pandemie startete neunerhaus dieses österreichweit einzigartige Angebot, das psychosoziale Versorgung unabhängig von Einkommen oder Versicherungsstatus bietet – und dabei einmal mehr auf einen komplett neuartigen Zugang und die Zusammenarbeit unterschiedlicher Professionen sowie Hilfe auf Augenhöhe setzt.
Ein wichtiger Teil der Praxis Psychische Gesundheit ist das Angebot „Kontrolliert Trinken“, das suchtgefährdete Menschen dabei unterstützt, ihren Alkoholkonsum selbstbestimmt zu reduzieren, ohne Druck auszuüben. Für nichtversicherte Menschen gibt es keine niederschwelligen und kostenlosen Angebote in diesem Bereich. Aufgrund des sensiblen Themenbereichs, einer hohen Hemmschwelle vieler Hilfesuchenden sowie Scham bzw. Angst vor Beschämung, war das Interesse bei Angebotseinführung zuerst gering. Im letzten Jahr hat sich „Kontrolliert Trinken“ jedoch zu einem wesentlichen Zusatz-Angebot in der Begleitung und Beratung bei psychischen Erkrankungen entwickelt. So gab es 2022 97 Kontakte im Rahmen des Angebots. Einigen Patient*innen gelang es, ihre Trinkmenge wieder in den Griff zu bekommen und somit auch ihren körperlichen und seelischen Zustand zu verbessern. Durch zielgruppenspezifische Angebote gewann die Praxis Psychische Gesundheit 2022 kontinuierlich an Bekanntheit: Die externen Anfragen nahmen zu, besonders im zweiten Halbjahr stieg das Interesse an „Kontrolliert Trinken“ so stark, dass neunerhaus das Angebot über das Gesundheitszentrum hinaus ausweitete und auch Bewohner*innen der neunerhaus Wohnhäuser ansprach. Im vergangenen Jahr gelang es neunerhaus, Vorurteile gegenüber psychischen Erkrankungen abzubauen und dadurch auch zur Entstigmatisierung der Betroffenen beizutragen.
Denn oftmals hängt mit übermäßigem Alkoholkonsum ein Rucksack voll mit Ängsten, Sorgen und psychischen Belastungen zusammen. So erzählt Herr S. im Gespräch von seinem Wunsch „nach Anerkennung und Wertschätzung, nach einem Rückzugsort und Intimsphäre, nach Freiheit und einem selbstbestimmten Leben“.
Seit der Eröffnung 2017 arbeitet im neunerhaus Gesundheitszentrum ein multiprofessionelles Team, das die Patient*innen und ihre Lebensumstände als Gesamtheit betrachtet – die letzten Jahre haben gezeigt, dass eine vollumfängliche Behandlung der Patient*innen ohne diesen Zugang nicht gelingen kann. Besonders 2022 – das Jahr der multiplen Krisen – hat bewiesen: Gesundheit ist viel mehr als die Abwesenheit von Krankheit. Es gibt äußere Umstände und Faktoren, die einen starken Einfluss auf die Gesundheit der Menschen am Rand der Gesellschaft haben. Dazu zählen etwa Armut, Einsamkeit, fehlende bzw. prekäre Wohn- oder Arbeitssituationen, oder Scham – kurz: alles, was die Psyche belastet.
Eine gelungene Erweiterung des Gesundheits-Angebotes von neunerhaus sowie ein Beispiel starker Kooperationen stellt auch die Sozial- und Gesundheitspraxis dock dar, wo – in Zusammenarbeit mit der Vinzenz Gruppe Wien – der Lückenschluss zwischen Allgemeinmedizin und fachärztlicher Betreuung gelang. Besonders hoch war die Nachfrage nicht nur in den Bereichen Orthopädie und Gynäkologie, sondern auch nach dem augenärztlichen Angebot: Gut sehen zu können und die Möglichkeit, unkompliziert eine neue Brille zu erhalten – das bedeutet nicht nur mehr Lebensqualität, sondern für viele dock-Patient*innen auch wieder Teilhabe – am Alltag, an der Gesellschaft.
Auch gesunde Zähne können einen großen Unterschied machen: So wurden 2022 in der neunerhaus Zahnarztpraxis 1.883 Patient*innen behandelt: 723 von ihnen konnten mit Zahnprothesen versorgt werden. Oft bedeutet das, seit Jahren erstmals wieder lächeln zu können – mit Selbstbewusstsein statt Schmerz und Schamgefühl. Für viele Betroffene sind neue Zähne ein wichtiger Integrationsschritt bei Job- und Wohnungssuche. Dies gelang in Zusammenarbeit von angestellten Praxis-Mitarbeiter*innen sowie 27 ehrenamtlichen Zahnärzt*innen, die regelmäßig Zeit und Expertise spenden. So zeigte auch das vergangene Jahr: Die neunerhaus Angebote wirken in viele Richtungen. Möglich machen das nicht nur innovative Zugänge, sondern auch die immer stärkere Zusammenarbeit unterschiedlicher Professionen sowie tragfähige Kooperationen – und nicht zuletzt die Rückenstärkung durch eine engagierte Zivilgesellschaft. Damit konnte es bei neunerhaus auch 2022 gelingen, Barrieren zu überwinden, Lücken zu schließen und Zugänge zu schaffen. Für Herrn S. sowie für viele andere Menschen, die Unterstützung beim Gesundwerden und -bleiben benötigen.
Dieser Text ist erstmals im Jahresbericht 2022 erschienen.