„Man rechnet nicht damit“

Yvonne G. und Walter R. wurden beide nach der Trennung von ihren Partner*innen wohnungslos. Auf ihren sehr unterschiedlichen Wegen in eine eigene Wohnung haben sie zwei neunerhaus Mitarbeiter*innen begleitet. Im Gespräch blicken sie zurück und berichten, was ihnen geholfen hat.

„Es geht schneller als man glaubt. Man rechnet nicht damit“, erzählt Walter R. Gemeinsam mit Sozialarbeiterin Roswitha E. sitzen wir im neunerhaus Café, durch die offenen Türen dringt die letzte Wärme des Herbstes herein. Walter R. trinkt eine Melange, dazwischen erzählt er, die Worte mit Bedacht gewählt. Von diesem einen Winter, in dem er mit seiner Frau und den Kindern umgezogen ist und sich seine Frau dann – für ihn plötzlich – von ihm getrennt hat. „Das war am 24. Dezember“, erinnert er sich. „Ich musste also ausziehen. Sie hat mir noch Zeit bis Februar gegeben und dann hat sie mich abholen lassen von der Polizei. Und so bin ich auf die Straße gekommen.“ Aber Walter R. hatte Glück – er konnte zu seiner Schwester ziehen, wo er vorerst im Gästezimmer unterkam. In dieser Zeit hat er sich bereits an neunerhaus gewendet, um wieder eine eigene Wohnung zu bekommen.

„Beim ersten Kennenlernen hab ich mir gedacht: Boah, ein harter Kerl“, sagt Roswitha E. „Mit Totenkopfamulett und Adler-Gürtelschnalle und so.“ Sie lacht. „Aber i bin a ganz Lieber“, antwortet Walter R. und lacht ebenfalls. „Das kann ich bestätigen“, meint Roswitha E. „Wir haben gut zusammengearbeitet und uns sehr oft und regelmäßig getroffen. Immer konzentriert auf das Ziel: Schauen wir, dass wir das mit der Wohnung hinkriegen. Und dann war klar – es braucht das Einkommen.“ Walter R. hat damals nicht viel verdient – nicht genug, um sich eine eigene Wohnung, auch eine günstige, leisten zu können. Vorübergehend musste er die Mindestsicherung beantragen, was er ursprünglich nicht wollte. „Ich dachte, dass ich sie nicht brauche. Aber dann hat sich herausgestellt, dass es zur Überbrückung notwendig war“, erzählt er. „Ich habe das rational gesehen: Das sind die Schritte, die es braucht, um weiter zu kommen. Das ist wie eine Stiege. Ich steig eine Stufe nach der anderen, bis ich oben angekommen bin.“ Mittlerweile lebt er in seiner neuen Wohnung und hat gerade einen Arbeitsvertrag unterschrieben. „Jetzt hab‘ ich wieder alles, was ich vorher hatte – Wohnung und Arbeit“, sagt er.

© Christoph Liebentritt

Roswitha E. arbeitet seit acht Jahren im Bereich Housing First bei neunerhaus. Als Sozialarbeiterin ist sie dafür zuständig, obdach- und wohnungslose Menschen auf dem Weg in die eigene Wohnung zu begleiten: „Wir schauen, welche Wohnform gewünscht ist und welche Möglichkeiten es realistischerweise gibt. Dann unterstützen wir je nach Bedarf bei der Existenzsicherung, beim Anmietungsprozess, bei Wohnungsbesichtigungen, beim Mietvertrag-Unterschreiben und beim Übersiedeln. Und wir sind natürlich in Zeiten von persönlichen Krisen für unsere Nutzer*innen da.“ Auch das Thema Gesundheit sei sehr wichtig, denn „wenn man gesundheitlich in einem sehr schlechten Zustand ist, ist man auch beim Wohnen eingeschränkt.“ Daher gibt es in den Teams auch Mitarbeiter*innen für psychosoziale Gesundheit, die beim Andocken ans Gesundheitswesen helfen – sie begleiten zum Beispiel zum*r Ärzt*in.

Das Erfolgskonzept Housing First wurde in den 1990er Jahren erstmals umgesetzt und hat die Wohnungslosenhilfe seither nachhaltig verändert. Die Idee dahinter ist einfach: obdach- und wohnungslose Menschen bekommen so schnell wie möglich wieder eine eigene Wohnung. Housing First hebt sich von anderen Formen der Wohnungslosenhilfe vor allem dadurch ab, dass – außer dem Zahlen der Miete – keine Bedingungen an die eigene Wohnung geknüpft sind. 2012 wurde Housing First von neunerhaus in Zusammenarbeit mit dem FSW (Fonds Soziales Wien) in Wien eingeführt – zuerst im Rahmen eines Pilotprojekts. Die Ergebnisse der dreijährigen Testphase haben überzeugt, mittlerweile ist Housing First zum festen Bestandteil der Wiener Wohnungslosenhilfe geworden.

„Mich motiviert die Arbeit so, weil ich mir denke: Keinen eigenen Rückzugsraum zu haben, stelle ich mir persönlich am tragischsten vor. Weil alles andere bewältigbarer ist, wenn ich meinen eigenen Raum hab“, sagt Roswitha E. „Arbeitslosigkeit, Trennung, persönliche Krisen – jeder Mensch geht durch solche Zeiten. Aber in Kombination mit Wohnungslosigkeit ist das besonders schlimm. Stabilisieren kann man sich nur, wenn man zumindest einen Rückzugsort, eine eigene Wohnung hat.“

© Christoph Liebentritt

„Hier kann ich bleiben“

„Ich liebe meine Wohnung abgöttisch. Überhaupt, der Ausblick! Der ist der Hammer. So ein Glück muss man wirklich haben“, sagt Yvonne G. und strahlt. Auf den ersten Blick wirkt sie ruhig und etwas schüchtern – das ändert sich aber schnell, als wir anfangen, uns zu unterhalten. Sie lacht viel, ein verschmitztes Augenzwinkern begleitet ihre Erzählungen. Gemeinsam mit Peer-Mitarbeiter Christian R., der sie seit ein paar Monaten begleitet, spazieren wir durch einen Wiener Park und Yvonne G. berichtet, wie sie zu neunerhaus gekommen ist. „Meine Beziehung war zu Ende und die Wohnung hat meinem Ex-Partner gehört. Deshalb hab‘ ich mich an ein Frauenhaus gewendet und bin so in die Wohnungslosenhilfe gekommen. Ich habe dann ein Zimmer in einem Wohnhaus bekommen.“ Für ein Jahr lebte Yvonne G. dort. Vieles war schwierig in dieser Zeit, erzählt sie, aber „es waren gute Sachen auch dabei.“ Zum Beispiel neue Freundschaften, die sich dort entwickelt haben oder die Mitarbeit im hauseigenen Garten. „Ich wollte dann aber unbedingt raus aus dem Haus, weil ich über längere Zeit von einer anderen Bewohnerin gestalkt wurde. Das war eine sehr herausfordernde Situation. Und so bin ich dann zu neunerhaus gekommen, wo ich zuerst eine befristete eigene Wohnung bekommen habe“, erzählt Yvonne G. Auf dem Weg in die neue Wohnung wurde sie von neunerhaus Sozialarbeiter*innen begleitet – die Wohnung selbst konnte über neunerimmo, das Tochterunternehmen von neunerhaus, vermittelt werden.

Dort arbeitet seit April Christian R., der selbst Wohnungslosigkeit erlebt hat. Nach seiner Ausbildung zum Peer der Wohnungslosenhilfe am neunerhaus Peer Campus erhielt er eine Anstellung bei neunerimmo. Als Peer-Mitarbeiter hilft er mit seiner Erfahrung anderen Menschen, die obdach- oder wohnungslos sind. „Was neunerimmo macht, hat mich von Anfang an beeindruckt. Das war für mich totales Neuland. Ich hab‘ mir gedacht, die verwalten da irgendwelche Wohnungen. Denkste. Von der Akquise über die Entwicklung, die Begleitung mit allem, was dazu gehört zum Wohnen.“ Während neunerhaus die sozialarbeiterische und psychosoziale Betreuung der Mieter*innen übernimmt, geht es bei neunerimmo um den Wohnraum: neunerimmo akquiriert, vermietet und vermittelt Wohnungen in Wien. Zudem unterstützen die Mitarbeiter*innen von neunerimmo bei Themen, in denen es ums Wohnen geht – von der Kommunikation mit Hausverwaltungen über das Mietenmonitoring bis zu allfälligen kleineren Reparaturen. Das hilft den Mieter*innen dabei, gut in ihren Wohnungen anzukommen und ein “normales” Wohnen zu erleben.

Für Yvonne G. war das aber noch nicht die letzte Station – ihre Wohnung war befristet. Deshalb haben neunerhaus und neunerimmo gemeinsam mit ihr nach einer unbefristeten Möglichkeit gesucht. „Was den Leuten ordentlich Sicherheit gibt, ist das, was Yvonne jetzt hat – eine unbefristete Wohnung“, berichtet Christian R. „Nicht nur für ein paar Jahre und dann kommt wieder was Neues.“ Yvonne G. sieht das genauso: „Hier kann ich bleiben und mir die Wohnung herrichten wie ich will. Der Unsicherheitsfaktor ist einfach nicht mehr da.“

Dieser Beitrag ist erstmals im Magazin neuner News, Ausgabe #51 erschienen.