Woran halten wir uns fest, wenn das Leben ins Wanken, die Welt aus den Fugen gerät? Wir haben im neunerhaus Kudlichgasse nachgefragt. Für Bewohnerin Ilse F. sind es ihre „Jungs“ – gemeint ist der Fußballverein SK Rapid und dessen Fanclubs.
lse F. war sieben Jahre alt, als sie im Fernsehen eine Dokumentation über den SK Rapid sah – damals noch in Schwarz-Weiß. Mit zwölf, endlich, durfte sie mit dem Nachbarskind das erste Mal zu einem Match ins Stadion. Das war 1968. Diesen Sommer wird sie ihre 56. Saison als Rapid-Anhängerin begehen. Dass sie die erleben wird, ist für die Pensionistin keine Selbstverständlichkeit, wie sie erzählt. Ilse F. ist etwa 1,55 Meter groß, ihre grauen Haare trägt sie kurz. Sie hat sich in einen Rapid-Pulli und eine Rapid-Regenjacke gehüllt. An ihren Ohren baumeln Rapid-Ohrringe, die sie extra für das Interview trägt. Rapid sei für sie mehr als ein Fußballclub. Die Gemeinschaft, der Zusammenhalt und auch die Offenheit, die sie im Fanclub erlebt, habe ihr durch ihre schwerste Zeit geholfen: „Die Jungs waren mein Netz.“
Ich dachte nie, dass mir das passieren kann.
Ilse F. stand mit 50 Jahren plötzlich auf der Straße.
„Ich dachte nie, dass mir das passieren kann. Ist halt so“, sagt sie schulterzuckend und meint damit, dass sie mit 50 Jahren plötzlich auf der Straße stand. Am Vorabend der Delogierung packte sie das Allernotwendigste „in zwei Plastiksackerln: Zeug zum Waschen, ein bisserl Gewand, einen warmen Pullover und Unterwäsche.“ Wie es dazu kam, dass sie obdachlos wurde? „Auf die 0-8-15-Art“, sagt sie. Ihr damaliger Mann habe kaum gearbeitet. Als Mutter zweier Töchter brachte sie die Familie alleine durch. Sie arbeitete als Kellnerin, fuhr Taxi, jobbte bei Veranstaltungen im Böhmischen Prater oder am Würstelstand. Manchmal zwei bis drei Tage in der Woche, manchmal hatte sie mehrere Jobs gleichzeitig. Nach 30 Jahren Ehe lernte ihr Mann eine andere Frau kennen. Zu Weihnachten 2003 legte er ihr den Wohnungsschlüssel kommentarlos auf den Tisch. Für Ilse F. begann eine schwere Zeit, die Miete konnte sie irgendwann nicht mehr bezahlen.
Im Jänner 2006 wurde sie delogiert. Die resolute Pensionistin – sonst sei sie für ihren Optimismus und ihr Durchhaltevermögen bekannt – kam an ihre Grenzen und verlor den Halt. Mit der Delogierung „war für mich alles abgeschlossen“, sagt sie. Auf die Frage, wie sie das meine, antwortet sie: „Ohne Rapid wär‘ i heut nimmer da. Definitiv!“
So ging es nach der Delogierung weiter
Nach der Delogierung war sie „mehr oder weniger zwei Jahre obdachlos“, erzählt Ilse F. Vorübergehend kam sie bei einer ihrer Töchter unter, wollte ihr aber dann nicht zu sehr zur Last fallen und zog weiter. Tageweise arbeitete sie im Automaten-Casino im „Böhmischen“ und blieb, wenn die letzten Gäste frühmorgens gingen. Als sie wieder Taxi fuhr, nutzte sie ihren fahrbaren Untersatz als Schlafmöglichkeit. Zwei Jahre ging das so, bis sie übergangsweise einen Platz in einer Einrichtung der Wohnungslosenhilfe beziehen konnte. Sechs weitere Jahre sollten vergehen, bis sie die Tür zu ihrer Wohnung im neunerhaus Kudlichgasse zum ersten Mal aufschließen und wieder hinter sich zuziehen wird können. Die Farben Grün und Weiß – die Clubfarben – ziehen sich durch die Einzimmerwohnung der Pensionistin. An einer Kastentür hängt eine Sammlung Rapid-Schals, im Badezimmer – natürlich – ein Duschvorhang ihres Lieblingsvereins. Zwischen Küche und Schlaf- und Wohnbereich dient eine Kommode als Raumteiler. Gegenüber dem Bett steht ein für Ilse F. sehr wichtiger Einrichtungsgegen- stand: der Fernseher. Auf diesem verfolgt sie nicht nur die Spiele ihrer Mannschaft, sondern eigentlich sämtliche Sportarten. „Nur Synchron- schwimmen und Rhythmusgymnastik ist nicht meines, was soll ich damit?!“, sagt sie und lacht. Eine Collage aus Zeitungsartikeln über Rapid klebt an der Wand hinter dem Fernseher. In der Mitte: Ein signiertes Foto der Mannschaft mit ihren beiden Enkerln.
Die eigene Wohnung als Anker
Menschen, die von Obdach- oder Wohnungslosigkeit betroffen waren und in das neunerhaus Kudlichgasse ziehen, verspüren erstmal eine große Erleichterung, weiß Caroline-Jesica T., die ihren Vornamen mit CJ abkürzt. Sie zählte einmal selbst zu den knapp 20.000 obdach- und wohnungslosen Menschen in Österreich. Seit 2021 arbeitet CJ T. als Peer-Mitarbeiterin bei neunerhaus. Für die Bewohner*innen des neunerhaus Kudlichgasse, so CJ T., sei der eigene Wohnraum ein Rückzugsort, in dem sie zur Ruhe kommen und Pläne schmieden, ihre Haustiere mitnehmen und oft zum ersten Mal seit langem wieder Besuch empfangen können. Der Schlüssel zur eigenen Wohnung sei definitiv ein Anker, ist die Peer-Mitarbeiterin überzeugt. Eine große Rolle dabei spiele auch die Gewissheit, dass die Bewohner*innen langfristig bleiben können, wenn sie das möchten. „Und wenn es der pflegerische Aufwand zulässt“, ergänzt CJ T.
Zeit für die Bewohner*innen und ihre Anliegen
Peer-Mitarbeiterin CJ T. spricht über die Atmosphäre im Wohnhaus. Für sie ist es bedeutsam, dass die Bewohner*innen überall ein offenes Ohr finden. Sei es die Hausleitung, die Reinigungskraft, die Sozialarbeiter*innen, der Sekretär, die Haustechniker oder die Zivildiener: Alle würden einen offenen und freundlichen Umgang mit den Bewohn*innen pflegen, bei dem wie von selbst Gespräche entstehen. Manche davon seien nur Plaudereien zwischen Tür und Angel, andere wiederum Entlastungsgespräche, die gut vor- und nachbereitet werden und auch in der Durchführung längere Zeit in Anspruch nehmen können. Doch genau das gibt CJ T. Motivation, jeden Tag aufzustehen und in die Arbeit zu gehen: Wirklich Zeit für die Bewohner*innen und ihre Anliegen zu haben.
2024 hat Ilse F. ihre Krankheiten im Griff. Den Rollator und den Gehstock, auf die sie vorübergehend angewiesen war, hat sie abgegeben, aber der Weg dorthin war beschwerlich, erzählt sie bei einem Spaziergang durchs Grätzl. Der Februar zeigt sich an diesem Tag von seiner gewohnten Seite: grau und verregnet. Die rüstige Pensionistin war es ihr Leben lang gewohnt, selbst das Tempo zu bestimmen. Dass es eine Weile dauerte, bis sie wieder alleine gehen konnte, kostete sie Geduld. Auch heute komme sie noch schnell aus der Puste und müsse sich ihre Kräfte einteilen. Aber Ilse F. gibt sich zuversichtlich: „Ich sag‘ immer, das Spiel ist noch nicht vorbei.“
Für ein Leben in Sicherheit und Würde
Ansprache, Verständnis, professionelle Hilfe und Beratung – obdach- und wohnungslose Menschen erhalten in akuten Krisen Hilfe von neunerhaus. Mit Ihrer Spende unterstützen Sie Einzelpersonen und Familien auf dem Weg zurück in ein selbstbestimmtes Leben.
Dieser Beitrag ist erstmals in der 52. Ausgabe der neuner News erschienen.