„Nach langer Zeit kann ich wieder stolz auf mich sein.“

15 Geschichten, 15 Zertifikate. Im März haben 15 Personen die Ausbildung Peer-Mitarbeiter*in der Wiener Wohnungslosenhilfe abgeschlossen. Mit dem Zertifikat in der Tasche können sie beruflich in der Wohnungslosenhilfe Fuß fassen. Ein Grund zum Feiern.

© Chrstioph Liebentritt

Obdach- und Wohnungslosigkeit hat viele Gesichter

Ende März 2024. In der Brunnenpassage am Yppenplatz in 1160 Wien herrscht positive Aufregung, und auch ein bisschen Anspannung. Ein großer Tag für die Absolvent*innen des mittlerweile sechsten Zertifikatskurses für ehemalige obdach- oder wohnungslose Menschen. 20.000 Menschen zählen in Österreich als obdach- oder wohnungslos. Hinter dieser Zahl stecken strukturelle Gründe wie Teuerungen, hohe Wohnkosten und Diskriminierungen am Arbeits- und Wohnungsmarkt. Dahinter verbergen sich aber auch 20.000 persönliche Geschichten. Die Absolvent*innen des siebenmonatigen Zertifikatskurses am neunerhaus Peer Campus haben ihre Geschichte aufgearbeitet, reflektiert und zeigen, dass Obdach- und Wohnungslosigkeit viele Gesichter hat, kein Geschlecht und kein Alter kennt und eine vorübergehende Phase sein kann. Insgesamt haben seit 2019 knapp 100 Personen den Zertifikatskurs erfolgreich absolviert. 2024 schloss der bisher jüngste Teilnehmer – er ist 23 Jahre alt – die Ausbildung ab.

Perspektivenwechsel und Lücken schließen

In der Brunnenpassage präsentieren die Absolvent*innen ihre Abschlussarbeiten – auf einer Bühne und vor Publikum. Sie zeigen damit, wie wertvoll und wirksam ihre Perspektive in der Wohnungslosenhilfe ist. Neben der eigenen Geschichte setzen sie sich auch mit den Angeboten der Wohnungslosenhilfe auseinander: Andreas W. erzählt von der ersten Nacht auf der Straße und über die Scham, sich in der öffentlichen Toilette waschen zu müssen. Yvonne S. ist zu den Plätzen ihrer Obdachlosigkeit zurückgekehrt und zeigt Fotos ihres damaligen „Wohnzimmers“ und wo sie und ihr Partner übernachtet haben. Eine Absolventin zeigt Versorgungslücken für LGBTIQ+ Personen auf. Roberta H. thematisierte Peer-Arbeit in einem Mutter-Kind-Haus und möchte als erste Peer-Arbeiterin in einer solchen Einrichtung tätig sein. Yoyo P. konzipierte eine fiktive Einrichtung für wohnungs- und obdachlose Menschen und ihre Tiere.

Wir haben uns gegenseitig gerettet, er gab mir einen Grund, weiterzumachen. Ohne ihn wäre ich nicht hier.

Yoyo P. war einige Zeit verdeckt wohnungslos, dann lebte sie mit ihrem Hund auf der Straße

Zwischen den Präsentationen ist Zeit zum Reden. Jene, die ihre Abschlussarbeit bereits vorgestellt haben, sind erleichtert und sprechen ihren Kolleg*innen, die ihre Präsentation noch vor sich haben, Mut zu. Manche der Absolvent*innen berichten von Jobzusagen, von einigen sind sogar die zukünftigen Arbeitergeber*innen vor Ort, um zu gratulieren. In ihren zukünftigen Jobs werden die Absolvent*innen ihre Perspektive einbringen und damit die Wiener Wohnungslosenhilfe zu einem besseren Ort machen, ist Elisabeth Hammer, Geschäftsführung neunerhaus, überzeugt. Sie wird am Ende der Veranstaltung gemeinsam mit Markus Hollendohner, Leitung Wiener Wohnungslosenhilfe des Fonds Soziales Wien, die Zertifikate überreichen. Gleich zu Beginn des Events drückte er den Absolvent*innen seinen tiefsten Respekt aus.

So wirkt Peer-Arbeit

Obdach- und Wohnungslosigkeit machen sich bei der Arbeitssuche nicht gut im Lebenslauf. Betroffene berichten von Diskriminierungen, Ablehnungen und Vorurteilen. Je länger die Arbeitslosigkeit dauert, umso schwieriger ist es, wieder Fuß zu fassen. Das berichten auch zwei Absolvent*innen, die über 15 Jahre lang arbeitslos waren. Jetzt freuen sie sich auf eine sinnvolle Tätigkeit in einem Bereich, in dem sie nicht vorverurteilt werden und „die auch ein bisschen Spaß machen darf,“ wie Yvonne S. schmunzelnd erzählt.

Im Zertifikatskurs am neunerhaus Peer Campus wird die Lücke in der Biografie zu einer wertvollen Expertise in der Wohnungslosenhilfe. Die Peer-Ausbildung schafft Hürden zum Arbeitsmarkt ab, sichert Einkommen und ermöglicht ein selbstbestimmtes Leben. Und für Monika M. bedeutet es nach langer Zeit, dass sie wieder stolz auf sich sein kann.