neunerhaus Peer Campus: Wie alles begann

Barbara Berner, Leitung neunerhaus Peer Campus, schreibt über Nutzer*innen-Partizipation, Bildungsbiographien und die Rolle von reflektiertem Erfahrungswissen.

Die Geschichte des Peer Campus und der Peer-Mitarbeiter*innen in der Wohnungslosenhilfe hat ihren Beginn bei der Frage, wie Partizipation von Nutzer*innen im Arbeitsalltag gelebt werden kann – und bei der Bereitschaft, das eigene Tun selbstkritisch zu hinterfragen.

Auch wir bei neunerhaus haben uns besonders ab 2017 in einzelnen Angeboten und übergeordnet derartige Fragen gestellt: Wie viel Partizipation und welche Art der Partizipation ist bei uns derzeit möglich und wo wollen wir uns hin entwickeln? Was muten wir den Funktionen, Strukturen und Abläufen an Veränderung zu? Und vor allem: Wo können wir noch mehr Raum für Teilhabe öffnen?

Eine Best Practice-Recherche hat uns auf den anspruchsvollen und mutigen Weg gebracht: Wir haben uns für das Ziel entschieden, mittelfristig die Erfahrungen von Nutzer*innen nicht nur punktuell Teil des Organisationswissens werden zu lassen, sondern die Expertise von (ehemals) betroffenen Menschen unmittelbar in die Teams zu holen.

Der Austausch mit anderen Fachkräften der Wohnungslosenhilfe in Wien und mit dem Fördergeber Fonds Soziales Wien hat uns darin bestärkt: Da gibt es etwas, das breiter interessiert und wo sich Energien bündeln lassen können! Schritt für Schritt hat sich die Vision konkretisiert: Die Etablierung einer neuen Berufsgruppe, die als Peer-Mitarbeiter*innen angestellt in der Wiener Wohnungslosenhilfe auf Augenhöhe mit anderen Berufsgruppen tätig werden. Zumindest gedanklich war der Paradigmenwechsel hin zur institutionalisierten Teilhabe von (ehemals) Betroffenen damit geschafft. Diese Transformation konkret zu erarbeiten und die Vision gemeinsam mit vielen und auf möglichst breiter Basis ins Leben zu bringen, das waren die nächsten Ziele. Und der Peer Campus das passende Instrument dafür.

Menschen sitzen in einem Sitzkreis in einer großen Halle. Im Hintergrund Publikum.
© Christoph Liebentritt

Die Kernkompetenz von (ehemals) Betroffenen ist ihr Erfahrungswissen. Bei Peer-Mitarbeiter*innen ist es das reflektierte Erfahrungswissen. Das bedeutet, es nicht nur aus der Wohnungslosigkeit hinaus geschafft zu haben, sondern auch zu wissen, wie dieser Weg funktioniert hat, warum er funktioniert hat und was die Hürden dabei waren. Das setzt eine gewisse Gleichzeitigkeit voraus: Eine Distanz zur eigenen Geschichte ist im gleichen Maße notwendig wie die Bereitschaft, mit dieser zu arbeiten. Um in diesem Spannungsfeld arbeiten zu können und den Perspektivenwechsel von „ich habe Wohnungslosigkeit erfahren“ hin zu „ich arbeite mit meinem reflektierten Erfahrungswissen“ zu schaffen, wurde der Lehrplan für den Zertifikatskurs Peers der Wohnungslosenhilfe entwickelt. Bei der Entwicklung des Zertifikatskurses wurde auf Kooperation und Bündelung von bereichsübergreifendem Wissen gesetzt. Im eigens gegründeten Beirat haben sich Vertreter*innen von FSW, AMS, MA 40, MA 24, MA 17, aus der Lehre der Universität Wien und der FH St. Pölten, der SDW, von LOK und Ex-In mit uns am Peer Campus zu übergeordneten Fragen ausgetauscht. Innerhalb der Wohnungslosenhilfe wurde eine Arbeitsgruppe von Führungskräften und Mitarbeiter*innen zusammengestellt, um am konkreten Lehrplan, an Rahmenbedingungen für Praktika und an einem grundlegenden Tätigkeitsprofil zu arbeiten.

Die Wurzeln der Peer Arbeit sind Kooperation, träger- und bereichsübergreifende Zusammenarbeit, interdisziplinäres Wirken sowie die Bereitschaft, das eigene Wissen im Miteinander weiter zu entwickeln. Diese Werte und Kompetenzen sind die Basis für die Ausbildung der Peers und ihr professionelles Handeln als Peer-Mitarbeiter*innen. Die Ausbildung von ehemals betroffenen Personen zu Peer-Mitarbeiter*innen ist das Herzstück und die Kernkompetenz des Peer Campus.

Der erste Durchgang des Zertifikatskurses fand 2019 statt. Im Herbst hatten die ersten Peers ihren Abschluss in der Tasche. Doch eine Ausbildung alleine führt noch nicht zu einer Anstellung. Hier beginnt die begleitende Arbeit des Peer Campus und die Wirkung über die Ausbildung hinaus. Der neunerhaus Peer Campus unterstützt und begleitet Peer-Mitarbeiter*innen, angehende Peers, Kolleg*innen/Führungskräfte von Peers und Einrichtungen beim Ankommen in Teams und der Einführung einer neuen Berufsgruppe sowie in der interdisziplinären Zusammenarbeit und leistet Sensibilisierungsarbeit für Peer-Arbeit an sich.

Eine der Hauptfragen hierbei ist: Wie kann eine Anstellung von einem*r Peer-Absolvent*in gelingen? Es braucht sowohl von der*dem potentiellen Peer-Mitarbeiter*in als auch von der Organisation bzw. Einrichtung ein hohes Maß an Interdisziplinarität und die Bereitschaft, auch Team- und Organisationsstrukturen neu zu denken bzw. zu hinterfragen. Wenn ein*e Peer in einem Team anfängt, dann kommt nicht nur eine neue Perspektive hinzu, sondern auch eine Berufsgruppe mit eigenem Wissen. In diesem Fall muss nicht nur eine weitere „Sprache“ gelernt und übersetzt werden, sondern formales Bildungswissen ebenso Platz finden wie reflektiertes Erfahrungswissen. Da kann es schon mal vorkommen, dass alle Beteiligten „lost in translation“ sind.

Peers am neunerhaus Peer Campus
© Christoph Liebentritt

Die Bildungs- und Arbeitsbiographien in einem Team (nicht nur in der Wohnungslosenhilfe) weisen normalerweise mehr Ähnlichkeiten auf als Unterschiede. Die Gemeinsamkeiten werden in den Vordergrund gestellt und kommuniziert, die Abweichungen werden ausgeblendet. Mit eine*r Peer-Kolleg*in im Team passiert der gegenteilige Prozess: Abweichungen werden sichtbar gemacht. In der Bildungs- und Arbeitsbiographie der Peers finden sich dort ihre Kompetenzen. Die Prozesse, in denen wir uns in der Übersetzungsarbeit für die interdisziplinäre Zusammenarbeit anstrengen müssen, da wo es auch mal ungemütlich wird – hier liegt die Handlungserweiterung auf der Team- und Einrichtungsebene.

Hierbei wird sichtbar: Peer-Arbeit ist Organisationsarbeit. Wie können Menschen, die keine geradlinigen und scheinbar gesellschaftskonformen Bildungs- und Arbeitsbiographien vorweisen können, die entsprechende Wertschätzung für ihren Weg und das dazugehörige Wissen erhalten? Wie kann dieses Wissen auch in Strukturen, die den Fokus auf Fachwissen haben, eingebracht werden und Raum bekommen? Umgekehrt: Wie kann dieses Wissen eingebracht werden, sodass es nutzbar ist und Lernprozesse stattfinden können? Es braucht Ressourcen – zeitlich und personell, um das gewährleisten zu können. Organisationen sind hier gefordert, eigene Strukturen kritisch zu hinterfragen und mitunter auch zu verändern.

Peer-Arbeit ist jedenfalls auch Übersetzungsarbeit. Zwischen Nutzer*innen und Peers und dem restlichen Team, sowie anderen Berufs gruppen. Zwischen Peers und den Einrichtungen, in denen sie tätig sind. Peers sind „Türöffner*innen“ und Wissensvermittler*innen. Peer-Arbeit macht Potentiale sichtbar, die sonst unbemerkt bleiben. Die sogenannten Lücken im Lebenslauf sind die Klammern für die Kompetenzen der Peers. Der Zertifikatskurs als Klammersetzung will die Sichtbarkeit erhöhen, anstatt sie auszublenden. Für Erfahrungswissen und mitunter ungenützte Potentiale.

Was sich zeigt: Peer-Arbeit hat eine hohe systemische Wirksamkeit. Das bedeutet, dass die Erweiterung um eine neue Berufsgruppe, die mit reflektiertem Erfahrungswissen arbeitet, nicht nur auf der Ebene der Klient*innen wirksam wird, sondern beginnt, Strukturen zu hinterfragen und zu verändern, die bis dato aus dem reinen Blickwinkel des Fachwissens betrachtet wurden. Die vorliegende Publikation macht sichtbar, wie durch die Teilhabe von (ehemals) Betroffenen und einer breiten Kooperationsbereitschaft die Rahmenbedingungen für Transformationen in Organisationen und gesellschaftsverändernde Inklusionsprozesse neu gesteckt werden können. Frei nach dem Motto: Peer we are!

Dieser Beitrag wurde erstmals in der Publikation PEER we are! veröffentlicht.