„Ohne sie geh ich nirgendwo hin“

Manchmal ist die Beziehung zum Tier eine der letzten, die obdach- und wohnungslosen Menschen geblieben ist. Den Begleiter aufzugeben, ist für die meisten keine Option. Deshalb können Bewohner*innen bei neunerhaus ihre Tiere mitnehmen – und in der Tierärztlichen Versorgung medizinisch behandeln lassen. Was das bedeutet, erzählt Lydia P.

Peer Lydia P. und Katze Nala

Es war der 23. Dezember 2018, kurz vor Mitternacht, als Lydia P. und ihr kleiner Sohn in eine Mutter-Kind-Einrichtung flüchteten. „Ich war in einer neunjährigen Beziehung, aber leider ist mit der Zeit der Alkoholkonsum von meinem Partner immer mehr geworden und auch seine verbalen Aggressionen haben zugenommen. Irgendwann habe ich gedacht: Wenn ich jetzt nicht geh, dann geh ich nie. So sind wir dann in der Mutter-Kind-Einrichtung gelandet“, erzählt sie. Mit dabei war auch Katze Nala, die Lydia P. schon seit vielen Jahren begleitet. Dass die Flucht der Beginn eines neuen Lebens war, hat Lydia P. erst nach und nach realisiert. „Ich habe versucht, unseren Alltag trotzdem weiterzuleben. In der Früh bin ich aufgestanden und habe das Kind ganz normal in den Kindergarten gebracht. Aber dann ist das alles so auf mich eingeprasselt. Erst da habe ich realisiert, dass ich wirklich gegangen bin.“

Lydia P. wollte Nala natürlich mit in die Mutter-Kind-Einrichtung nehmen, das war aber gar nicht so einfach: „Tiere waren in diesem Haus eigentlich nicht vorgesehen – ich musste viel diskutieren. Schlussendlich hat es aber geklappt. Wenn ich sie nicht mitbringen hätte können, dann hätte ich nicht gewusst, was ich machen soll. Weil ohne Nala geh ich nirgendwo hin. Das war für uns eigentlich der wichtigste Punkt: Sie kommt überall mit.“

Schauplatzwechsel. Als wir ins Wartezimmer der neunerhaus Tierärztlichen Versorgung treten, sind noch keine Tierbesitzer*innen da. Am Empfang begrüßt uns Agnes Herzina, die die Tierärztliche Versorgung organisatorisch leitet. Sie ist ausgebildete Sozialarbeiterin und schon lange bei neunerhaus tätig: „Tiere sind mir immer am Herzen gelegen. Ich habe selbst zwei Hunde“, erzählt sie. „In meiner Funktion in der Tierärztlichen Versorgung stehe ich im Mittelpunkt und merke, dass das auch manchmal herausfordernd ist. Trotzdem ist die Stimmung im Team immer gut, wir lachen viel gemeinsam und haben Spaß bei der Arbeit. Hier werden wirklich alle Hebel in Bewegung gesetzt, um die Tiere von obdach- und wohnungslosen Menschen gut zu versorgen.“ Das spüren auch die Tierbesitzer*innen – Karl F. sitzt mit seinem Kater Leo im Wartezimmer und bekräftigt: „Die haben die besten Tierärzt*innen hier.“ Die beiden haben heute einen Termin für Leos Kastration.

Agnes Herzina in der neunerhaus Tierärztlichen Versorgung
© Christoph Liebentritt

Die neunerhaus Tierärztliche Versorgung behandelt die Tiere obdach- und wohnungsloser Menschen kostenlos. An drei Tagen die Woche werden hier Hunde und Katzen sowie Kleintiere von ehrenamtlichen Tierärzt*innen und Assistent*innen untersucht, gechippt, registriert und geimpft. Außerdem behandeln die Tierärzt*innen Krankheiten und kleinere Verletzungen: von Verdauungsproblemen über Ohrenentzündungen, Hautveränderungen und Gelenksproblemen, Wunden an den Pfoten bis zu chirurgischen Eingriffen. Dazu gehören Kastrationen genauso wie Tumorentfernungen oder Zahnsanierungen. Wenn Tiere Medikamente benötigen, können Besitzer*innen diese direkt in der Tierärztlichen Versorgung mitnehmen.

Karl F. und Kater Leo müssen nicht lange warten, bevor sie in den Behandlungsraum gerufen werden. Dort kümmern sich gleich mehrere Personen um den Kater – neben zwei Tierärztinnen sind auch drei Praktikantinnen da. „Die Tierbesitzer*innen, die zu uns kommen, haben meist ein sehr gut gepflegtes Tier bei sich. Viele von ihnen kümmern sich mehr um ihr Tier als um sich selbst“, berichtet Eva Wistrela-Lacek, die die Tierärztliche Versorgung mitgegründet hat und tierärztlich leitet. Für obdach- und wohnungslose Menschen sind Tiere oft die letzten Begleiter, die ihnen noch geblieben sind – und damit Ersatz für viele andere Beziehungen. „Tiere sind aber auch wichtige Verbindungspunkte zur Außenwelt. Ich muss mich kümmern und gewisse Aufgaben übernehmen: Gassi gehen mit dem Hund, Futter kaufen für die Katze. Dadurch pflege ich soziale Kontakte. Und: Wer sich gut um sein Tier kümmert, lernt auch wieder, gut auf sich selbst zu schauen.“ Durch die enge Zusammenarbeit zwischen der neunerhaus Tierärztlichen Versorgung und dem neunerhaus Gesundheitszentrum gleich nebenan kommen viele Menschen nach langer Zeit erstmals wieder in Kontakt mit Ärzt*innen und, wenn Bedarf besteht, mit Sozialarbeiter*innen und Peer-Mitarbeiter*innen, die bei Fragen und Problemen unterstützen.

Dass Tiere mit ihren Besitzer*innen bei Sozialorganisationen wohnen dürfen, war nicht immer so. Mit der Gründung von neunerhaus 1999 gab es zum ersten Mal ein Wohnangebot in Wien, das obdach- und wohnungslose Menschen nutzen konnten, ohne ihr Tier weggeben zu müssen. Voraussetzung dafür ist, dass die Tiere registriert, geimpft und gechippt sind – Aufgaben, die die Tierärztliche Versorgung nicht nur für Tierbesitzer*innen übernimmt, die bei neunerhaus wohnen, sondern auch für jene, die in anderen Häusern der Wiener Wohnungslosenhilfe leben – zum Beispiel in Mutter-Kind-Einrichtungen.

Peer Lydia P. mit Katze Nala
© Christoph Liebentritt

Zurück zu Lydia P. Nachdem sie mit ihrem Sohn und Nala wieder in eine eigene Wohnung gezogen ist, ist der Kater Simba als viertes Familienmitglied zu ihnen gestoßen. „Er ist ein Vielfraß, Nala eher die Diva. Verstehen tun sie sich nicht. Sie war immer alleine und er ist noch so verspielt. Aber sie duldet ihn“, berichtet Lydia P. lachend. Von einer anderen Bewohnerin der Mutter-Kind-Einrichtung hat sie erfahren, dass es bei neunerhaus den Zertifikatskurs Peers der Wohnungslosenhilfe gibt. Im Kurs lernen Menschen, die Obdach- oder Wohnungslosigkeit erlebt haben, wie sie diese Erfahrungen nutzen können, um anderen Betroffenen zu helfen. Nach dem Abschluss können Peers in der Wiener Wohnungslosenhilfe angestellt arbeiten. Wir haben Lydia P. am neunerhaus Peer Campus kennen gelernt, einen Tag vor ihrem Abschlussgespräch. Für die Zeit nach der Ausbildung hat sie bereits konkrete Pläne: „Ich habe schon eine Zusage für einen Job. Den Peer-Kurs zu machen, war die beste Entscheidung. Ich bin so happy!“

Dieser Beitrag ist in den neuner News #49 erschienen.