„Alle Menschen lieben doch Geschichten, oder? Neben dem Hören ist es offensichtlich auch ein Bedürfnis der Menschen, ihre Geschichten zu erzählen. Deshalb tut es auch so weh, wenn dir niemand zuhört.“

„Peer ist nicht irgendein Job“

Von Christopher Labenbacher, Peer-Mitarbeiter im neunerhaus Gesundheitszentrum und am neunerhaus Peer Campus

Ich habe mich immer schon für naturwissenschaftliche Dinge interessiert. Meine Eltern erkannten das und konnten mir eine Schulbildung ermöglichen, die meinen Interessen entgegenkam. Da ich sehr fleißig und strebsam bin, habe ich nach der Matura mein Physikstudium in Mindeststudienzeit und summa cum laude abgeschlossen. Aufgrund meiner vielbeachteten Doktorarbeit über Robotik konnte ich einen äußerst gut bezahlten Job in einem der führenden Unternehmen in diesem Gebiet kriegen. Ich wohne mit meiner Frau und zwei Kindern im Grünen, nahe der Stadt, in der ich arbeite und bin sehr glücklich und zufrieden. Gibt’s noch was zu erzählen? Ach ja, ich überlege, mir einen Hund anzuschaffen. Ende.

Haben Sie’s erraten? Das ist gar nicht meine Lebensgeschichte. Ehrlich gesagt, hab ich sie erfunden. Würde mir jemand diese Lebensgeschichte erzählen, würde ich mich für die Person freuen, dass ihre Biographie so unkompliziert und geradlinig verlaufen ist und sie ein Leben führen kann, das ihr gefällt. Dann würde ich sie bitten, mir mehr von der Arbeit – etwa über die beiden Hauptsätze der Thermodynamik oder über die Mysterien der Quantenverschränkung – zu erzählen. Wenn ich von meiner eigenen Arbeit erzähle, muss ich unweigerlich auch über mein Leben reden. Die beiden sind untrennbar miteinander verknüpft. Und dass ich überhaupt noch davon erzählen kann, war nicht immer sicher.

Alle Menschen lieben doch Geschichten, oder? Man hört sie gern, fiebert mit, klappert mit den Zähnen, wenn’s spannend wird und atmet auf, wenn’s der Protagonist wider aller Umstände ins nächste Kapitel schafft. Neben dem Hören ist es offensichtlich auch ein Bedürfnis der Menschen, ihre Geschichten zu erzählen. Deshalb tut es auch so weh, wenn dir niemand zuhört. Oder, noch schlimmer, wenn du von den Menschen zunehmend das Gefühl vermittelt kriegst, dass sich deine Geschichte bestenfalls als schlechtes Beispiel eignet und deine Existenz ansonsten eher nutzlos, wenn nicht störend oder sogar schädlich für die Gesellschaft ist. Einfach nicht gewinnbringend verwertbar. Dieses Gefühl
kann Menschen zum Verstummen bringen. Ich fand es immer traurig, an all die verstummten Menschen zu denken, mit all dem Schönen und Besonderen, mit ihren berührenden, tragischen, erschütternden, wilden Geschichten im Kopf und im Herzen. Wie sie einfach wieder vergehen, ohne dass jemand davon erfährt. Dabei könnten gerade IHRE Geschichten die Welt und ein zynisches Menschenbild verändern, das vor allem auf die möglichst effiziente Verwertbarkeit von Leben im Sinne einer entfesselten Marktwirtschaft abzielt.

Jedenfalls hab ich bei meinem Vorstellungsgespräch für die Peer-Stelle im neunerhaus Gesundheitszentrum zu meiner zukünftigen Teamleitung gesagt, dass mich die Geschichten von Menschen am meisten interessieren. Als sie mich dann anrief, um mir für die Stelle zuzusagen (Hurra!), hatte sie auch gleich „ein Attentat“ auf mich vor: Ob ich mir vorstellen könnte, gleich ein paar Tage nachdem ich anfange, mit nach London zu fliegen, zu einem Austauschtreffen von FEANTSA. Das konnte ich mir nicht nur vorstellen, sondern überraschte mich sehr angenehm – und gab mir gleich zum Einstieg einen sehr positiven Eindruck darüber, wie vielfältig Peer-Arbeit sein kann. Das waren zwei sehr spannende und aufregende Tage in London. Auf dem Rückflug wurde ich dann gefragt, ob ich mir vorstellen könne, etwas in den zukünftigen Kursen zu machen. Auch das konnte ich mir gut vorstellen, da ich mal eine Zeit lang Pädagogik studiert habe und in den Praktika zum Studium den Eindruck bekam, dass ich ganz gut im Unterrichten bin. Aber natürlich musste ich noch einiges lernen, nachdem ich den Job im Gesundheitszentrum angetreten hatte und noch mehr, seit ich zusätzlich den Kurs, im Tandem mit meiner Kollegin, leite.

Zuletzt im Kurs hab ich von einem Teilnehmer ein Feedback bekommen, über das ich mich extrem gefreut habe. Er sagte, dass ich „in ein paar Sätzen das Gesagte des*der Gastreferent*in so zusammenfasse, dass ich es endlich verstehe.“ Das heißt natürlich jetzt genau NICHT, dass die Zeit, in der der*die Gastreferent*in dran war, überflüssig gewesen wäre. Aber ich spüre oft einfach, wenn zu dem Vortrag noch etwas ergänzt werden muss, weil’s doch noch nicht ganz klar ist, obwohl niemand es sagt. Ich weiß nicht, ob diese Art Gespür etwas ist, das man lernen kann. Aber anscheinend hab ich es gelernt.

Wenn man eine*n Peer einstellt, stellt man eine fertige Persönlichkeit (pun not intended) ein. Mit einer Vergangenheit, Erfahrungen und Erlebnissen, Eigenschaften und Herangehensweisen an die Dinge. Mit Ideen, Einstellungen, Haltungen, Träumen, Visionen. Auch Ecken und Kanten. Peers können aufrütteln, auch mal anecken, aber auch zum Lachen bringen. So ist Arbeiten mit Peers. Vielfältig, aufregend, spannend.

Den Teilnehmer*innen im Kurs geben wir Handwerkszeug mit, um mit ihren Geschichten arbeiten zu können. Peer ist nicht irgendein Job, den man machen kann, wenn man keinen anderen Job mehr kriegt. Peer kann auch nicht jede*r lernen. Vor dem Kurs musst du schon ein jahrelanges und unbezahltes Praktikum machen. Den Peer-Kurs abzuschließen und anzufangen zu arbeiten ist nicht der erste Schritt einer Karriere, sondern ein weiterer Höhepunkt in einer Reihe von vielen Schritten, die man schon hinter sich bringen konnte, auf dem Weg in ein neues Leben.

Dieser Beitrag ist erstmals in der Publikation „PEER we are!“ erschienen.