„Peers sind gekommen, um zu bleiben“

Erfolge, Status quo und Zukunft der Peer-Arbeit: Ein Gespräch zwischen Franz Haberl, Peer-Mitarbeiter bei Forum Obdach Wien und Gründer des Peer Cafés, Elisabeth Hammer, neunerhaus Geschäftsführerin, und Markus Hollendohner, Abteilungsleiter Wohnungslosenhilfe im FSW, der in Wien die Wohnungslosenhilfe plant, steuert und auch finanziert.

Ende 2019 haben die ersten Peers den Zertifikatskurs Peers der Wohnungslosenhilfe abgeschlossen. Wo steht die Peer-Arbeit heute?

Hollendohner: Fangen wir mit den Zahlen an, die sprechen für sich: Es gibt aktuell 39 Peer-Stellen, bei neun Trägerorganisationen über die ganze Wiener Wohnungslosenhilfe verteilt. In so gut wie jedem Leistungsbereich arbeiten heute Peer-Mitarbeiter*innen. Das ist ein Riesenerfolg – innerhalb von fünf Jahren ist eine neue Berufsgruppe entstanden. Und auch eine Art Normalität eingekehrt: Da sich die Peer-Mitarbeiter*innen mittlerweile aussuchen können, wo sie sich bewerben, gibt es Konkurrenz zwischen den Arbeitgeber*innen. Gleichzeitig müssen sich auch die Peers beweisen. Es ist beeindruckend, wie schnell sich diese Idee etabliert hat.

Haberl: Ich sage es immer wieder: Peers sind gekommen, um zu bleiben. Als Absolvent des ersten Zertifikatskurses bin ich selbst immer wieder erstaunt über die rasante Entwicklung. Bei unserem Abschluss hatte niemand einen Job in Aussicht. Heute gibt es beinahe schon Jobgarantie für alle, die den Kurs erfolgreich abschließen. Das sucht seinesgleichen in der Arbeitswelt – gerade in einer Zeit wie dieser, mit Pandemie, Teuerungen etc. Hut ab an alle, die an diesem Projekt beteiligt sind. Außerdem find ich sehr erfreulich: Wenn heute jemand sagt, er*sie ist Peer, wissen die Leute, was das ist.

Hammer: Den letzten Satz würde ich noch nicht unterschreiben, aber ich teile die Einschätzung, dass Grandioses passiert ist. Auch wenn viel zu tun bleibt: Es ist toll, dass aus einem kleinen Projekt so viele Impulse ausgehen können für andere Bereiche und für die Wohnungslosenhilfe als Ganzes. Wir haben uns bei der Implementierung viel überlegt, dennoch bin ich überrascht, auf wie vielen Ebenen die Peer-Arbeit wirkt.

Franz Haberl unterhält sich mit Elisabeth Hammer.
© Christoph Liebentritt
Welche Wirkung hat die Peer-Arbeit?

Hammer: Sie zeigt, dass eine Integration von Personen mit brüchigen Bildungs- und Arbeitsbiographien in den regulären Arbeitsmarkt gelingen kann. Und da spreche ich noch gar nicht von den Wirkungen der Peer-Arbeit auf die Nutzer*innen und die Organisationen. Hier trägt das Peer-Projekt viel gegen Diskriminierung und Stigmatisierung von wohnungslosen Menschen bei. Es ist ein breit angelegtes und strukturiertes Empowerment-Projekt für wohnungslose Menschen, das nicht nur schöne Reden schwingt, sondern auch Ergebnisse liefert.

Hollendohner: Da unsere großen Evaluierungsinstrumente etwas Zeit brauchen, sind wir bei der Wirkungsanalyse immer auch auf Rückmeldungen der Trägerorganisationen angewiesen. Die Peer-Arbeit sticht hier heraus, weil es kaum negative Rückmeldungen dazu gibt, weder von den Träger*innen, noch den Mitarbeiter*innen oder den Kund*innen. Man spürt, wie viel die Peer-Arbeit bewegt hat, einerseits durch Veranstaltungen wie der exPEERience, die viel zum Diskurs beigetragen hat, anderseits im täglichen Arbeiten. Viele Bedenken, die es am Anfang gab, haben sich in Luft aufgelöst, etwa von Mitarbeiter*innen anderer Berufsgruppen, die Mehrarbeit befürchteten.

Haberl: Aus meiner Sicht ist das auch der Gestaltung des Zertifikatskurses sowie der Auswahl der Teilnehmer*innen zu verdanken und hier geht ein großes Lob an neunerhaus. Die Vorbereitung der Peers auf die multiprofessionellen Teams, in denen viele später arbeiten, ist ein wichtiger Teil der Ausbildung. Die meisten finden sich dann gut zurecht – natürlich auch, weil die Teams sie dementsprechend aufnehmen.

Hammer: Ich würde gerne einen wesentlichen Aspekt einbringen, warum das Projekt so gut geklappt hat: Und zwar weil es von Anfang an ein kooperatives Projekt war, mit dem Fonds Soziales Wien, aber auch mit Trägerorganisationen und Multiplikator*innen, die das weitergetragen haben. Eine besondere Dynamik hat es dann entfaltet, als es Peers gab,
die beigetragen und viel ins Rollen gebracht haben, als Multiplikator*innen in eigener Sache.

Hollendohner: Spannend wird, wie es weitergeht. Hier hat sich ein kleines Rad in Bewegung gesetzt, das auch auf andere Räder einwirkt. Mir kommt oft in Gesprächen unter, dass die Erfahrung der Peers so eine große Ressource darstellt. Wir laden beispielsweise bei der Weiterentwicklung von Angeboten aktiv Peers ein, sich zu beteiligen. Am Anfang waren die Peers dabei eher zurückhaltend. Dann hat es „Klick“ gemacht und sie haben begonnen, sich sehr aktiv einzubringen – das ist auch für uns als Fördergeber eine irrsinnige Ressource. Und ich teile die Einschätzung, dass vieles erst richtig losgeht, auch wenn es um die Entwicklung von Angeboten geht. Peers sind nicht nur in der direkten Unterstützung für akut betroffene Menschen angekommen, sondern auch, wenn es um Gestaltung geht.

Markus Hollendohner im Gespräch mit Franz Haberl.
© Christoph Liebentritt

Hammer: Was die Peers auch veranschaulichen, ist, dass die Wohnungslosenhilfe einen Riesenschritt weg gemacht hat von der Verwaltung von Wohnungslosigkeit hin zu nachhaltigen Lösungen. Einerseits weil Peers selber einen anderen Umgang haben und auch etwas verändern wollen, andererseits weil sie selber einen Job haben. Damit ändert sich auch der Fokus. Es geht nicht nur um das Notwendigste an Versorgung, sondern auch um Weiterentwicklung. Adäquate Versorgung der Menschen muss es sowieso geben, aber mit den Peers geht es auch einen Schritt weiter Richtung Beendigung von Wohnungslosigkeit.

Haberl: Man merkt bei den betroffenen Menschen eine Veränderung durch den Kontakt mit Peers: Auch wenn sie nicht selbst Peer werden wollen, denken viele darüber nach, wie sie ihr Erfahrungswissen einbringen können. Zum Beispiel bei den Gruppen im Peer Café: Die werden zuerst von uns angeleitet und dann übernehmen mit der Zeit Nutzer*innen bzw. Teilnehmer*innen, wie sie bei uns heißen.

Hammer: Man wusste in der Wohnungslosenhilfe ja auch lange nicht, was man mit dem Wort „Partizipation“ konkret anfangen sollte. Ich hoffe, es wird mir verziehen, wenn ich das so deutlich sage, aber es ist so. In den vergangenen Jahren hat sich schon einiges getan, und gerade die Peer-Arbeit hat in dieses Thema eine neue Dynamik hineingebracht.

Hollendohner: Ich kenne das auch aus anderen Bereichen, wo in der Vergangenheit oft das Hauptkriterium für Partizipation war, ob es einen „Kummerkasten“ gibt. Mit den Peers stehen wir heute ganz woanders.

Hammer: Ein systemischer Impact der Peer-Arbeit!

Wohin soll sich die Peer-Arbeit entwickeln?

Haberl: Ich glaube, einiges soll sich einfach so weiterentwickeln wie in den vergangenen drei Jahren: Ich wünsche mir, dass immer mehr Peers in immer mehr Teams ankommen. Interessant wäre auch zu hinterfragen, weshalb ein Teil nach Abschluss der Ausbildung nicht als Peers arbeitet. Ich fände es wichtig, dass die Peers in der Straßensozialarbeit ankommen. Das ist noch nicht so, und das ist nur ein Beispiel. Auch bei den Stakeholdern, zum Beispiel in den Magistratsabteilungen oder dem AMS, sollte es Peers geben.

Hammer: So gut das in der WWH gelungen ist, man darf nicht unterschätzen, wie schwierig das ist. Ich finde, beim Peer-Projekt war es eine gute Mischung aus Bottom-up und Top- down. Der FSW wollte das wirklich und das war ein wesentlicher Hebel. Es war schnell klar, dass das ehrliches Commitment ist und keine Sonntagsrede – so einfach ist das wahrscheinlich nicht in anderen Organisationen umzusetzen.

Hollendohner: Eine interessante Frage in dem Zusammenhang ist für mich auch: „Wie lange ist man ein Peer?“ Wie lange wird man von Nutzer*innen so wahrgenommen?

Haberl: Ich würde sagen, man ist so lange Peer, wie man mit seiner eigenen Geschichte, seinen Erfahrungen helfen kann. Aber entscheiden kann das jede*r nur für sich. Wir diskutieren das oft im Peer Café, auch weil z. B. in finanzieller Hinsicht die Funktion von Betreuer*innen interessanter sein kann. So einfach zu wechseln geht aber nicht, schon gar nicht in derselben Organisation. Peers haben andere Funktionen und andere Kommunikationsmöglichkeiten als Betreuer*innen, oft fungieren sie auch als Vermittler*innen.

Hammer: Peers sind eine neue Berufsgruppe in der Wohnungslosenhilfe, und hoffentlich sind sie nicht nur ein Zusatz. Interessant ist, wie sich auch die gesamte Leistung entwickelt. Nach zehn Jahren wird es zum Beispiel interessant zu beobachten sein, was die Peer-Arbeit für das Gesamtgefüge gebracht hat. Dass wohnungslose Menschen schneller vorankommen? Dass manche Betreuungsberufe einen weniger breiten Fokus haben, weil die Peers einen Teil übernehmen, der zu ihrer Rolle passt? Und so sehr ich mich freue über die bisherigen Erfolge, ich denke, dass da noch einige Herausforderungen kommen werden, die durch die Euphorie und Freude rund um den Pilotstatus verdeckt werden.

Elisabeth Hammer im Gespräch.
© Christoph Liebentritt

Welche Herausforderungen kommen noch auf die Peer-Arbeit zu?

Haberl: Es wird für alle gemeinsam schwierig. Erstens wird die Obdachlosigkeit wahrscheinlich steigen, durch Teuerungen, Krisen etc. Zweitens haben die Menschen kein Geld zum Spenden. Das geht nicht zusammen: Mehr Bedarf, weniger Geld. Die Herausforderung wird uns alle treffen, auch die Peers. Ich glaube aber, dass das Projekt so stressresistent ist, dass es auch das aushalten wird. Und dass es bei den Anlaufstellen, zu denen die Menschen kommen werden, auch immer mehr Peers braucht. Weil sie eine Übersetzungsfunktion übernehmen und damit dazu beitragen, dass Probleme rascher gelöst werden. Das ist ein Effekt der Peer-Arbeit. Und für Menschen, die sich zum ersten Mal in einer prekären, verzweifelten Situation befinden, kann das wirklich wichtig sein, ein Gegenüber, das die Situation nachvollziehen kann. Als Beispiel kann ich die Peers im neunerhaus Gesundheitszentrum nennen, die wissen oft sehr schnell Bescheid, was Sache ist.

Hammer: Ich hab’ vorher schon gesagt, dass in den Organisationen sicher nicht alle überzeugt sind, weder Sozialarbeiter*innen noch Fachkräfte in der Bürokratie. Insofern wird ein Marsch durch die Institutionen durchaus herausfordernd sein.

Was kann die Gesellschaft von den Peers lernen?

Hammer: Was mich allgemein beschäftigt: Gesellschaftliche Spaltungen nehmen zu und damit auch Vorbehalte gegenüber Menschen, die arm sind oder sonst irgendwie aus der Norm fallen. Peers sind auch eine Pufferzone für gesellschaftlichen Zusammenhalt. Wenn wir es schaffen, dass die, die einmal ausgeschlossen waren, einmal eine Krise hatten, nicht in einer Schmuddelecke geparkt werden, sondern mit dem Rückenwind der Peers zurück in die Mitte der Gesellschaft kommen – dann ist das ein Projekt, das Zusammenhalt stärkt und sogar eine demokratiepolitische Bedeutung hat. Wir müssen uns gemeinsam darum kümmern, dass es gesellschaftlich nicht geht, zu sagen: Du bist selber an deiner Lage schuld, also bleib dort. Peers sind geeignet, um zu zeigen und dabei mitzuhelfen, dass Obdachlosigkeit und Wohnungslosigkeit nur eine Phase sind.

Hollendohner: Obwohl wir wissen, dass es jede*m passieren kann, schieben wir prekäre Situationen und die Menschen darin in ein Eck. Wohnungslosigkeit und Obdachlosigkeit sind so negativ behaftet. Das Schöne am Peer-Projekt ist, dass den Menschen ein Werkzeug gegeben wird, um all die negativen Erfahrungen in etwas Positives zu verwandeln, und anderen Menschen zu helfen. Das könnte die Gesellschaft durchaus auf andere Gruppen ummünzen. Im Kern geht es um die Beseitigung von Scham. Es ist keine Schande, wenn man eine Krise durchmacht oder eine schlechte Erfahrung macht.

Haberl: Peers können den Menschen helfen, sich an die eigenen Fähigkeiten zu erinnern und wieder zurück in den ersten Arbeitsmarkt zu finden, sich wieder eine Existenz aufzubauen. Die Gesellschaft kann von den Peers lernen, dass es von heute auf morgen mit Privilegien vorbei sein kann, dass man sich schneller als man glaubt auf der anderen Seite wiederfindet. Und dass man dann froh sein wird, wenn einem jemand sagt, es gibt einen Weg hinaus aus dieser Misere. Zum Beispiel ein Peer.

Dieser Beitrag ist erstmals in der Publikation „PEER we are!“ erschienen.