Wenn Sandra H. von ihrer Arbeit als diplomierte Gesundheits- und Krankenpflegerin im neunerhaus Gesundheitszentrums erzählt, tut sie das behutsam und respektvoll. Man kann sich gut vorstellen, dass sie genau diesen Umgang auch mit Patient*innen pflegt. Im neunerhaus Gesundheitszentrum werden obdach- und wohnungslose oder nichtversicherte Menschen versorgt. Ihre Gesundheit ist stark gefährdet. Sie zu versorgen braucht nicht nur medizinische Expertise, sondern auch Einfühlungsvermögen und ein Vertrauensverhältnis. Wie das gelingt, und was Pflege für sie bedeutet, erzählt die 50-Jährige in diesem Interview.

Menschen, die ins neunerhaus Gesundheitszentrum kommen, betreten oft zum ersten Mal seit Jahren eine Ordination, auch wenn sie schon länger krank sind. Was macht neunerhaus anders, dass die Patient*innen ins neunerhaus Gesundheitszentrum kommen und wie gelingt der für die Genesung so wichtige Vertrauens- und Beziehungsaufbau?
Unsere Patient*innen sind doppelt belastet. Ihr Gesundheitszustand ist aufgrund ihrer Lebensrealität – sie sind obdach- oder wohnungslos oder nicht versichert – oft besonders schlecht. Aufgrund ihrer Situation wurden sie im regulären Gesundheitswesen meist jahrelang diskriminiert, beschämt, nicht ausreichend versorgt oder sind im Falle einer fehlenden Krankenversicherung von Vornherein ausgeschlossen. Wir begegnen dem Menschen mit größtmöglicher Offenheit. Wenn ein Patient oder eine Patientin zum ersten Mal da ist, stellen wir uns vor, fragen, was ihn oder sie zu uns führt und was wir tun können. Wenn eine Wunde zu versorgen ist, erklären wir, wie und warum wir das machen. Alles geschieht nur mit der Einwilligung der Patient*innen. Wenn beispielsweise jemand keine Bandage möchte, erklären wir, warum wir das aber gut finden. Letztendlich treffen aber die Patient*innen die Entscheidung.
Mit welchen Beschwerden und Krankheiten kommen Menschen zu euch?
Der Fokus bei uns im Pflegeteam liegt auf der Wundversorgung, weswegen viele Patient*innen mit einer akuten Wunde zu uns kommen. Wir haben aber auch Patient*innen, die wir aufgrund ihrer schweren chronischen Grunderkrankung oder nicht heilbaren Erkrankung jahrelang ärztlich und pflegerisch betreuen. Und dann haben wir auch immer wieder Menschen, die schwer und lebensverkürzend erkrankt sind. Da sind wir sehr darum bemüht, sie im Rahmen unserer Möglichkeiten in dieser letzten Lebensphase, in dieser Lebenszeit palliativ zu begleiten.
Pflege im neunerhaus Gesundheitszentrum ist mehr als das Anlegen eines Verbands. Welche Aufgaben gehören noch zur umfassenden Betreuung?
Wir besprechen die Wirkweise und Einnahme von Medikamenten oder wie man das Leben und den Alltag mit einer Wunde oder mit Schmerzen gestalten kann. Nicht zuletzt leisten wir psychosoziale Begleitung. Wenn jemand von sich aus Probleme anspricht oder man das Gefühl hat, es gibt da etwas, was angesprochen gehört und es gibt bereits eine Beziehung, die es zulässt, dass ich das anspreche, dann ist das natürlich auch unsere Aufgabe. Hier ist auch der interdisziplinäre Austausch mit anderen Berufsgruppen im Gesundheitszentrum wichtig: Wenn ich mich zum Beispiel mit der Sozialarbeit über eine*n Patient*in austausche, lerne ich Aspekte kennen, die ich so noch nicht gesehen habe.
Begegnung und Hilfe auf Augenhöhe. Diesen Satz hört man in der Welt der sozialen Organisationen oft. Auch neunerhaus leistet im Gesundheitszentrum Hilfe auf Augenhöhe. Was steckt dahinter?
Begegnung auf Augenhöhe bedeutet für mich, dass ich davon ausgehe, dass jeder Mensch Experte für sich selbst ist. Niemand kennt seinen eigenen Körper und sein Befinden so gut wie der Betreffende selbst. Ich kann dann in der Beziehung mein Fachwissen zur Verfügung stellen, meine Beratung und mein Handeln. Aber wissen, wie es mir geht und was ich brauche, weiß letztlich der oder die, die davon betroffen ist.
neunerhaus berücksichtigt in der medizinischen Versorgung die Lebensrealität seiner Patient*innen. Womit sind obdach- und wohungslose Menschen konfrontiert, was erschwert ihre Genesung?
Unsere Patient*innen sind einem enormen psychischen Stress ausgesetzt. Auch wenn in einem Notquartier einmal Platz ist, hat man keine Sicherheit, keinen gesicherten Schlafplatz und nichts, wohin man jeden Tag gehen kann. Wenn man auf der Straße schläft, werden die Verbände nass, Schmutz kommt in die Wunde.
Das, was es sehr schwer macht, ist das Schlafen auf der Straße, das Schlafen auf Beton.
Sandra H. über die Lebensrealität von Menschen in der Obdachlosigkeit.
Viele unserer Patient*innen schlafen im Sitzen, das erschwert gerade die Heilung von Wunden an den Beinen. Die regelmäßige Einnahme von Medikamenten und regelmäßig zu gesunden Mahlzeiten zu kommen, ist für sie schwierig. Und es ist das ständige, ungeschützte, den vorherrschenden Witterungsbedingungen Ausgesetzt-Sein, das es für die Patient*innen und ihre Genesung schwierig macht. Im Sommer ist es die enorme Hitze, man muss schauen, dass man genug trinkt, die Haut vor der Sonneneinstrahlung schützt. Es ist ein unendliches Thema und im Winter es ist natürlich die Kälte.
Du hast täglich mit Menschen zu tun, die nicht nur körperlich erkrankt sind, sondern die von der Gesellschaft an den Rand gedrängt, die ausgegrenzt werden und für die sich sonst oft niemand zuständig fühlt. Wie schaffst du es, positiv zu bleiben?
Es sind die schönen Erlebnisse, Beziehungen und Begegnungen, die zählen. Wenn jemand vielleicht nach längerer Zeit wiederkommt und sich sichtlich freut, freue ich mich genauso. Oder wenn eine Wunde, die den Patienten oder die Patientin im Alltag sehr plagte, das Mühsal im Alltag größer wurde, wo sehr viel Schmerz da war und die Wunde dann heilt oder man gemeinsam Schmerzen mindern kann, dann ist das schön
Die Möglichkeit, in meinem Beruf Menschen kennenzulernen und von ihnen etwas erfahren zu dürfen, empfinde ich bis heute als eines der größten Privilegien.
Sandra H. über ihre Motivation in der täglichen Arbeit.
Du bist seit über 30 Jahren als diplomierte Gesundheits- und Krankenpflegerin tätig. Was bedeutet Pflege für dich?
Pflege kann viel erreichen. Mir ist wichtig zu betonen, dass Pflege mehr kann als pflegen im körperlichen Sinne. Pflege kann ganz viel: Begleiten, da sein, Situationen mittragen und aushalten. Das macht uns als Pflegepersonen aus und ist etwas, was mich seit Jahren im Pflegeberuf hält und hoffentlich vielen Menschen zugutekommt. Ich glaube, das muss ein bisschen mehr gesehen werden, was Pflege alles kann.
Deine Spende garantiert die medizinische Versorgung von obdach-, wohnungslosen und nichtversicherten Menschen.
Im neunerhaus Gesundheitszentrum und mit den neunerhaus Mobilen Ärzt*innen werden jährlich knapp 6.000 Menschen medizinisch versorgt – Tendenz steigend. Bitte hilf uns, das Angebot auch weiterhin aufrechtzuerhalten.