Akute Armut erzeugt Stress: Obdach- und wohnungslose Menschen, die psychisch erkranken, sind doppelt belastet. Bisher gab es keine eigene Stelle im Gesundheitssystem, an die sich Betroffene in dieser Situation wenden konnten. Deshalb hat neunerhaus die Praxis Psychische Gesundheit eröffnet.
Als sich die Tür an diesem Montagmorgen zum ersten Mal öffnet, treten Menschen in Wintermänteln begleitet von einem Schwall kalter Luft ins neunerhaus Gesundheitszentrum. Ein paar Meter nach dem Eingang stockt die Warteschlange; es werden COVID-Symptome kontrolliert. Wer fieber- und hustenfrei ist, darf sich am Empfang anstellen. Obwohl überall Abstände eingehalten werden, füllt sich der helle Raum, der Empfang und Wartebereich beherbergt, schnell mit Menschen. Jazzmusik tritt leise aus dem Hintergrund hervor und verdrängt die morgendliche Stille.
Ein Leben auf der Straße kann psychische Erkrankung auslösen
„Ich weiß, was es heißt, Depressionen zu haben und nicht zu wissen, wie man bei der Haustür rauskommt“, sagt Carmen Ploch, Peer-Mitarbeiterin bei neunerhaus. Die junge Frau hat schon viel erlebt: Vor einigen Jahren ist sie aus einer prekären Wohnsituation geflüchtet und in ein Übergangswohnheim gezogen. Damals, erzählt sie, hätte sie etwas gebraucht, das es für obdach- und wohnungslose Menschen nicht gab – jemanden zum Reden und die Möglichkeit, ihre psychische Erkrankung kostenlos und zeitnah behandeln zu lassen. „Denn die Sache ist: Wenn man eine Krise hat, hat man die in dem Moment und nicht in drei Wochen.“
Durch die Herausforderungen eines Lebens auf der Straße kann sich eine psychische Erkrankung verstärken oder überhaupt erst ausgelöst werden. Umgekehrt geraten Menschen manchmal in schwierige Lebenssituationen, weil sie psychisch erkrankt sind – zum Beispiel, wenn eine Depression schlussendlich zur Kündigung führt und dann auch der Wohnungsverlust droht. Um obdach- und wohnungslose Menschen in dieser besonderen Situation bestmöglich unterstützen zu können, hat neunerhaus im vergangenen September die Praxis Psychische Gesundheit eröffnet. Zum Angebot gehören niederschwellige Gespräche, offene Gruppentermine und psychiatrische Behandlung. „Häufig kommen Personen zu uns, die mehrere Probleme gleichzeitig haben. Unser Ziel ist, gemeinsam mit ihnen diesen Rucksack auszupacken und zu sortieren, um eine selbstbestimmte Lebensführung wieder möglich zu machen“, sagt Elisabeth Hammer, neunerhaus Geschäftsführerin.
Flexibel ins Gespräch kommen
Heute arbeitet Carmen Ploch als Peer in der Praxis Psychische Gesundheit und macht genau das, was ihr damals gefehlt hat: Sie ist da, um mit Menschen ins Gespräch zu kommen und nachzufragen, wie es ihnen wirklich geht. „Ich bin hier so happy, weil es exakt diese Lücke füllt. Es ist wunderbar zu sehen, dass den Menschen damit wirklich geholfen ist.“ Die Praxis Psychische Gesundheit ist ins neunerhaus Gesundheitszentrum eingebettet, wo das interdisziplinäre Team flexibel und ganz niederschwellig im Einsatz ist: Man trifft die Mitarbeitenden im Wartebereich, im neunerhaus Café oder draußen vor dem Gesundheitszentrum. Dort gehen sie aktiv auf Patient*innen zu, um herauszufinden, ob Gesprächsbedarf besteht. Die Praxis Psychische Gesundheit ist immer dann geöffnet, wenn auch das Gesundheitszentrum seine Türen offen hat, denn: „Für viele ist es einfacher, in eine Arztpraxis zu gehen als zu sagen ‚Ich gehe jetzt zum Psychiater'“, sagt Lisa Steiner, die das Team der Praxis Psychische Gesundheit leitet.
Im Gesundheitszentrum unterhalten sich Wartende murmelnd; immer wieder wird jemand in eine der Ordinationen gerufen. Auf den ersten Blick scheint das Geschehen durcheinander – schnell wird aber klar: Hier haben alle Mitarbeitenden den Überblick. Eine Patientin, die gerade aufgerufen wurde, jetzt aber nicht mehr hier zu sein scheint, wird von einer Sozialarbeiterin vor dem Eingang abgeholt. Eine Krankenpflegerin steht an der Toilettentür und versichert sich, dass der rollstuhlfahrende Patient drinnen gut zurechtkommt. Und Ploch unterhält sich mit einem Patienten beim Empfang. Sie hat an diesem Vormittag vor allem eines: Zeit. Zeit für Menschen, die ins Gesundheitszentrum kommen, weil sie einen Verbandswechsel brauchen, weil sie ein Rezept abholen, oder weil ein Weisheitszahn drückt. Bevor sie ins Behandlungszimmer gerufen werden, hat Ploch ein offenes Ohr für sie.
Zeit zum Reden
Das Konzept hinter diesem Angebot nennt sich Zeit zum Reden und ist ein wesentlicher Teil der Praxis Psychische Gesundheit. Arne Friedrichs, Facharzt für Psychiatrie bei neunerhaus, beschreibt das so: „Manchmal brauchen die Leute kein Medikament und keine Unterstützung bei behördlichen Angelegenheiten; manchmal brauchen sie einfach nur jemanden zum Reden. Dann hören wir erst einmal zu.“ Flexibel auf die Bedürfnisse der Menschen reagieren zu können ist ein Grundprinzip der Praxis Psychische Gesundheit. Einerseits sollen all jene gut versorgt werden, die sich in einer akuten Krise befinden und psychiatrische Behandlung brauchen. Andererseits bietet die Praxis Psychische Gesundheit auch Austausch in Gruppen. Patient*innen können sich Termine bei Psychiater Friedrichs ausmachen oder zu einer offenen Gesprächsgruppe kommen, die wöchentlich stattfindet. Zusätzlich gibt es ein Therapieangebot, das sich spezifisch mit dem Thema Alkohol beschäftigt. „Seit ich hierherkomme, geht es mir psychisch besser“, erzählt Michael F., der an einer Depression erkrankt ist und viele Jahre nicht versichert war. Sein erster Besuch im Gesundheitszentrum war ein Termin in der neunerhaus Zahnarztpraxis: „Ich habe sehr lange gebraucht, um herzukommen, weil ich eine Art Scham hatte. Ich habe mir gedacht: So bedürftig bin ich nicht – bis jetzt konnte ich das immer managen. Schlussendlich habe ich zehn Jahre verloren, weil ich mich so lange nicht entscheiden konnte, das Angebot in Anspruch zu nehmen.“
Mittlerweile kommt Michael F. regelmäßig in die neunerhaus Praxis Psychische Gesundheit und führt mit Teamleiterin Lisa Steiner Gespräche bei gemeinsamen Spaziergängen. Im vergangenen Jahr hatten 42 Prozent der Patient*innen im neunerhaus Gesundheitszentrum zusätzlich zu körperlichen Beschwerden auch eine diagnostizierte psychische Erkrankung. Am häufigsten beschreiben Patient*innen Probleme mit Stress, Depressionen und Ängste. Obwohl die Zahl der Betroffenen – auch aufgrund der Pandemie – zuletzt gestiegen ist, bleibt Psychiater Friedrichs optimistisch: „Es gibt immer noch dieses Vorurteil, dass psychische Erkrankungen nicht heilbar sind. Das stimmt aber nicht, die ganz überwiegende Zahl der Menschen wird wieder gesund.“
„Danke für’s Zuhören!“, sagt der letzte Patient des Tages zu Carmen Ploch, bevor er das Gesundheitszentrum verlässt. Die Lichter des angrenzenden Cafés, wo jetzt einiges los ist, scheinen verschwommen durch das Milchglas in den Wartebereich. Dort weicht die Jazzmusik wieder der Stille. Bis zum nächsten Tag.
Dieser Beitrag ist erstmals in den neuner News, Ausgabe #46, erschienen.