Schauspieler Hüseyin Kahraman war zwei Jahre lang obdachlos in Hamburg. Heute pendelt er für Dreharbeiten zwischen Deutschland und Österreich und mimt auf der Leinwand den Bösewicht. Im Gespräch mit neunerhaus gewährt er einen unverstellten Blick auf seine Zeit der Obdachlosigkeit – und darauf, wie es ist, wieder Mut zu fassen und aufzustehen.
Ein kalter Wintertag vor dem neunerhaus Café in 1050 Wien. Die Sonne blinzelt zwischen den Häuserreihen hervor. In der Grätzeloase des Cafés trotzen manche Besucher*innen der Kälte und unterhalten sich bei einer Zigarette. Ein Linienbus rauscht vorbei, am Heck prangt ein Werbebanner des Filmes Hades – eine (fast) wahre Geschichte, der seit Dezember 2023 in den Kinos läuft. Als hätte der Bus den nächsten Café-Besucher angekündigt, schreitet einer der Schauspieler von ‚Hades‘ schnellen Schrittes auf das Café zu: Hüseyin Kahraman. neunerhaus trifft den 53-Jährigen, großgewachsenen Niedersachsen und dessen Hund Lemmy zwischen Filmpremiere, Castings und Dreharbeiten. Kahraman ist eine Erscheinung: Unter dem schwarzen Stoffmantel trägt er schwarzes Hemd, schwarzes Sakko, schwarze Stoffhose. Die Füße stecken in spitzen Lederschuhen. Die Haare an den Seiten abgeschoren, so kommen Tattoos am Kopf und im Gesicht gut zur Geltung. In der einen Hand hält er eine Zigarette, in der anderen die Hundeleine, an deren Ende Lemmy aufgeweckt mit dem Schwanz wedelt. Lemmy, ein weißes Knäuel eines Malteser-Hundes, ist seit fünf Jahren ständiger Begleiter Kahramans.
Durch die Kampagne #Jede*n kann es einmal auf die Schnauze hauen wurde der Schauspieler auf neunerhaus aufmerksam. Als er ein Plakat im Leuchtkasten sah, habe er sich angesprochen gefühlt – erinnerte es ihn doch an seine eigene Geschichte. Diese möchte er neunerhaus erzählen, um zu zeigen: Es kann wirklich jeden treffen.
„Wie vom Zug angefahren.“ Obdachlos und drogenabhängig in Hamburg.
Bevor Hüseyin Kahraman in der Filmbranche Fuß fasste, erlebte er 2017 in Deutschland seinen „kompletten Absturz“ – und meint damit seine Obdachlosigkeit, die mit einer Drogensucht einherging. Es sollten 18 Monate vergehen, bis er wieder „ein Dach überm Kopf und festen Boden unter den Füßen“ hatte. Aber alles der Reihe nach.
Kahraman betrieb in Hannover 15 Jahre lang ein Modegeschäft. Die Arbeit bereitete ihm Spaß, die Kosten waren gedeckt, das Einkommen gut. Bis sich irgendwann eine Gleichgültigkeit einschlich, er einige Fehlentscheidungen traf und Drogen ins Spiel kamen. „Mein Absturz war eigentlich vorprogrammiert. Als mich der Vermieter aus der Wohnung warf, habe ich von einem Tag auf den anderen wirklich alles verloren“, fasst er diese Episode zusammen. Nach seinem Rauswurf verschlug es Kahraman nach Hamburg. Dort kannte ihn niemand, in der Hansestadt konnte er untertauchen. An seine erste Nacht erinnert er sich gut. „Ich habe im Park geschlafen. Ich war wie paralysiert, wie vom Zug angefahren. Von da an ging es mit den Drogen erst extremst los. Ich musste alles ausblenden.“ Das Geld für Drogen aufzutreiben, bestimmte seinen Tagesablauf. Die Zeit seiner Obdachlosigkeit sei für ihn unweigerlich mit seinem Drogenkonsum verknüpft. Wenn er daran zurückdenke, habe er sofort das „miese Gefühl, auf der Droge zu sein. Ich habe im Körper diese Lähmung, ich spüre sie im Gesicht, spüre die Leere im Kopf.“
„Ich musste alles ausblenden.“
Hüseyin Kahraman über seine Drogensucht
Hamburg sei im Winter ein richtig kalter Ort, überlegt er und meint damit nicht nur das Wetter. „Da weht wirklich eine steife Brise.“ Angebote der Obdachlosenhilfe nahm er nicht an, aus Sorge, Lemmy nicht mitnehmen zu können. Hier erfahrt ihr mehr über seinen Gefährten auf vier Beinen. Manchmal kam er irgendwo für ein paar Nächte unter. Kahraman war Teil einer losen Gruppe obdachloser Menschen. Wenn die Temperaturen nach unten kletterten, hielten sie Ausschau nach Holzpaletten: „Die haben wir geklaut, aufeinandergestapelt, Decke drübergelegt und drauf geschlafen. So mussten wir wenigstens nicht am kalten Boden schlafen und waren vor Ratten und Mäusen etwas sicher.“ Wenn es „richtig bitterkalt war“, warteten sie vor Banken und liefen ins Foyer, wenn jemand rauskam. „Wir haben uns da in irgendeine Ecke verzogen und dort geschlafen, bis uns die Polizei oder ein Sicherheitsdienst zwei bis drei Stunden später wieder rausgeschmissen hat.“ Wenn er heute durch eine Stadt gehe, halte er intuitiv Ausschau nach Schlafplätzen.
Seit fünf Jahren ist Kahraman clean. Noch heute bekomme er eine Gänsehaut, wenn er an den Moment zurückdenke, der sein ganzes Leben umkrempeln sollte, erzählt er.
„Und bitte!“ Der Moment des Aufstehens
Dezember 2018. Hamburg. Kahraman suchte unter einer Brücke Schutz vor Regen und Nässe. Als ihn dort ein Fotograf und Talentscout ansprach und ihn zu einem Filmdreh überreden wollte, lehnte er zunächst ab. Der Fotograf blieb hartnäckig.
Eine Woche später. Hüseyin Kahraman betritt das Filmset. In einem Krankenhaus werden Szenen für die Krimiserie Nachtschicht gedreht. Im Wartebereich des Spitals, die Szene, in der Kahraman zum ersten Mal vor der Kamera stehen wird, reden um die 150 Personen wild durcheinander. Sein eigenes Wort verstand man nicht mehr, erinnert sich Kahraman zurück. Das laute Durcheinander wird von einem „Ruhe bitte!“ durchschnitten. Die Regieassistentin tritt aus der Menge hervor. „Mit einem Schlag war es so leise. Ich habe nach oben geblickt und konnte die Neonröhren surren hören“, beschreibt Kahraman den Augenblick. Die Regieassistentin erklärt ihm seine Rolle und gibt das Kommando zum Dreh:„Und bitte!“ „Dieses ‚Und bitte!‘ war für mich so ein Rausch. Seit dem Tag bin ich clean, seither habe ich kein Verlangen mehr nach Drogen.“
Insgesamt verbrachte Kahraman zwei Tage am Set, 18 Stunden täglich. Noch am Set fragte man ihn für einen Werbespot an. Mit der Gage nahm er sich in Hannover ein Monteurs-Zimmer und konnte es für zwei Monate im Voraus bezahlen. „In der ersten Nacht habe ich zweieinhalb Stunden am Stück geduscht. Einfach geduscht. Das war auch so ein bisschen die Seele reinigen.“ 2019 zog Kahraman der Liebe wegen nach Wien und streckte seine Fühler wieder in der Filmbranche aus.
„Ich muss oft in meine Jackentasche greifen, um meinen Wohnungsschlüssel zu spüren.“
Hüseyin Kahraman
Hüseyin Kahraman lebt seit 2019 mit seiner Freundin in Wien. Jedes Mal, wenn er nachhause komme und den Schlüssel in der Tür umdrehe, überkomme ihn ein Glücksgefühl. Als er im neunerhaus Café davon erzählt, greift er in seine rechte Sakko-Tasche und tastet nach dem Schlüssel. „Ich greife oft in meine Tasche, um diesen Schlüssel zu spüren, diesen Anhänger, ich muss da immer wieder hineingreifen!“ Wenn er nicht den Bösewicht spielt, mache er nicht viel, liege am Sofa herum und schaue fern: „Im wahren Leben bin ich ein totaler Langweiler“, lacht der Schauspieler. Wenn die Miete bezahlt ist, Geld für Essen da ist und er für Lemmy sorgen kann, gehe es im gut.
Auf die Frage, was man seiner Meinung nach über Obdachlosigkeit wissen sollte, kommt die Antwort prompt: „Es kann jeden treffen, wirklich jeden.“ Es sei arrogant, davon auszugehen, man sei vor Obdach- oder Wohnungslosigkeit gefeit. Nach einer kurzen Nachdenkpause schiebt er nach: „Und Obdachlosigkeit muss kein Dauerzustand sein.“