Jede*r kann wohnen. Mehr noch: Jede*r hat das Recht auf Wohnen. Nicht nur auf Unterbringung oder Beherbergung; nicht nur auf Dach, Bett und Suppe.
Am Bahnhof Jedenspeigen im Bezirk Gänserndorf in Niederösterreich steht ein kleines Wartehäuschen. Für die Fahrgäste ist es bei Regen ein willkommener Unterschlupf. Für Ruth (64) war es ein Jahr lang ihr Zuhause. Dabei hatte sie früher ein ganz normales Leben. Mit ihrem Mann war sie von Wien nach Niederösterreich gezogen, sie war in Pension, er verdiente gut. Dann wurde er zu drei Jahren Gefängnis verurteilt – für Ruth kam das aus heiterem Himmel, nie hatte er ihr von Problemen erzählt.
Nun begann für sie die Abwärtsspirale. Die Raten für das Haus waren höher als ihre Pension, ihren Kindern erzählte sie aus Scham nichts. Das Haus wurde zwangsversteigert und der Versuch, eine Wohnung zu finden, scheiterte. „Ich hatte durch den Umzug keinen Anspruch auf eine Gemeindewohnung in Wien und auf dem privaten Markt hatte ich keine Chance.“ Also kratzte Ruth ihr Geld für eine Monatskarte der ÖBB zusammen. Sie fuhr jeden Tag mit dem Zug nach Wien und zurück. Zum Duschen ging sie ins Hallenbad. Sie tat alles, um nicht aufzufallen.
22.741 Menschen in Österreich sind als wohnungslos registriert, 12.967 davon in Wien. Die Gründe sind vielfältig und haben oft mit der wachsenden sozialen Ungleichheit zu tun. In den vergangenen zehn Jahren sind in Österreich die Mietkosten um ein Drittel gestiegen. Das Lohnniveau hat allerdings nicht entsprechend nachgezogen. Gleichzeitig ist der Zugang zu gefördertem Wohnraum oft zu hochschwellig. Ein Satz, den Mitarbeiter*innen der Wohnungslosenhilfe besonders oft hören: „Ich hätte nie gedacht, dass mir das einmal passiert.“ Immer noch ist das Bild von Obdachlosigkeit in unserer Gesellschaft von alten Stereotypen geprägt: Mann, Bart, Parkbank, Bierdose. Dabei ist Wohnungslosigkeit längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen.
Wohnungslosigkeit wird weiblicher, internationaler, jünger.
Waren im Jahr 2015 noch 28 Prozent der BewohnerInnen der neunerhaus Wohnhäuser Frauen, sind es 2019 bereits 34 Prozent. 2019 wurden 302 Erwachsene mobil betreut, wovon 166 Personen, also der überwiegende Teil, Frauen und 136 Personen Männer waren. In den betreuten Haushalten leben 261 Kinder.
Eine ähnliche Tendenz gilt für die Zahlen registrierter Wohnungslosigkeit allgemein. Dabei darf man nicht eine als besonders hoch eingestufte Dunkelziffer außer Acht lassen, denn obdachlose Männer sind sichtbarer als Frauen. Viele Frauen leben prekär oder in Abhängigkeits- und Gewaltbeziehungen, um den Wohnplatz für sich und ihre Kinder zu erhalten. Wohnungslosigkeit kennt keine Grenzen – soziale Hilfssysteme schon, auch innerhalb der EU. Wer versucht, woanders Fuß zu fassen und dabei in die illegale Beschäftigung gedrängt wird, bekommt das besonders hart zu spüren. Mit fehlenden Beitragszah-lungen entfällt nämlich auch die soziale Absicherung. Für viele wird dann ein Leben auf der Straße alternativlos.
neunerhaus beobachtet eine deutliche Zunahme an jungen Erwachsenen, die den Übergang aus einem gewohnten Betreuungskontext als Kind und Jugendlicher zum selbstständigen Erwachsenenleben nicht schaffen. Ein Viertel aller wohnungslosen Menschen in Österreich ist unter 29 Jahre alt.
Wohnen kann jede*r.
Jeder Mensch kann wohnen. Mehr noch: Jeder Mensch hat das Recht auf Wohnen. Nicht nur auf Unterbringung oder Beherbergung; nicht nur auf Dach, Bett und Suppe. Österreichische SozialwissenschafterInnen stellen vermehrt die These auf, dass Wohnen in Bezug auf Status und Anerkennung den Stellenwert von Arbeit übernommen hat. Das wurde auch bei der im Juni 2019 von neunerhaus veranstalteten Fachtagung neunerhaus Impulse im Wiener WUK aufgegriffen. Fazit der ExpertInnen: Wohnen wird immer mehr zum sozialen Dreh- und Angelpunkt. In anderen Worten: Ein eigener Wohnungsschlüssel öffnet auch die Tür zur sozialen und kulturellen Teilhabe in einer Stadt.
Wohnungslosigkeit beenden: Das ist keine Utopie
Deshalb muss das Ziel heißen: „Wohnen für alle“ – leistbar, dauerhaft und inklusiv. Im Wohlfahrtsstaat Österreich, in der Menschenrechtsstadt Wien, muss das möglich sein. Die wohnungspolitische Infrastruktur von Wien ist im internationalen Vergleich hervorragend: ein hoher Anteil an sozialem Wohn-bau, ein stark ausgebautes Sozialnetz und hohe Lebensqualität. Wer, wenn nicht Wien, kann Wohnungslosigkeit beenden?
Finnland macht vor, wie es gehen kann – es ist das einzige EU-Land, in dem die Zahlen wohnungsloser Menschen in den vergangenen Jahren rückläufig sind. Das Erfolgsrezept ist kein Geheimnis: Es heißt Housing First. Der Ansatz beruht auf der Überzeugung, dass jeder Mensch, der wohnen will, auch wohnen kann. Mit diesem Grundsatz wird dauerhaftes, leistbares und inklusives Wohnen gleich zu Beginn einer Betreuung zur Verfügung gestellt, nicht erst am Schluss. Housing First verwirklicht so exemplarisch das Recht auf Wohnen. Zugleich trägt es dazu bei, dass die Wiener Wohnungslosenhilfe durch die Forcierung dieses Konzepts gerade jenen Menschen eine Chance auf eine Wohnung gibt, die bisher am stärksten durch Marktmechanismen oder Zugangsrichtlinien vom privaten wie gemeinnützigen Wohnungsmarkt ausgeschlossen waren.
Ein zentrales Grundprinzip bei Housing First ist es, die Wahlfreiheit der BewohnerInnen zu respektieren. Das äußert sich etwa darin, dass Mietvertrag und Betreuung nicht aneinander gekoppelt sind. Dieses Detail ist entscheidend für die gesellschaftliche Inklusion von ehemals wohnungslosen Menschen: Selbst wenn das Betreuungsverhältnis zwischen KlientIn und Housing First-Team eines Tages beendet ist, befindet sich die Person in einem eigenständigen Mietverhältnis, das sich auch rechtlich nicht von anderen Mietverträgen unterscheidet.
Housing First muss Mainstream werden
Seit neunerhaus dieses Konzept 2012 nach Wien holte, konnten mit neunerhaus Housing First 348 Personen in 159 Haushalten mit Wohnraum versorgt werden. Die Stabilität dieser Mietverhältnisse liegt bei 94 Prozent – ein Erfolg, der sich auf professionelle, bedarfsorientierte Betreuung in Kombination mit der Bereitstellung von leistbaren Wohnungen durch unser Tochterunternehmen, der gemeinnützigen GmbH neunerimmo, zurückführen lässt. Darauf stützte sich 2019 auch eine Kooperation zwischen Erste Bank und neunerimmo: Im Rahmen der Social Housing Initiative stellt die Erste Bank Finanzierungsbei-träge für 200 Wohnungen, deren BewohnerInnen durch neunerhaus und andere Sozialorganisationen betreut werden. Der Besiedelungsprozess und die Kooperation mit entsprechenden BauträgerInnen werden dabei von neunerimmo moderiert.
Ruths Geschichte geht weiter. Von einem Bekannten ihres Sohnes erfuhr die Familie von ihrer prekären Lage. Nach einem dreiviertel Jahr in einer Übergangswohnung erhielt sie einen Anruf, dass sie über neunerhaus Housing First eine Wohnung bekommen würde. „Ich erinnere mich noch, als ich die Wohnung angeschaut und mir gedacht habe: Die werde ich niemals kriegen. Da sind mir die Tränen gekommen, aber ich habe den Gedanken weggeschoben, das war zu gut um wahr zu sein“, sagt Ruth. „Doch dann haben sie wirklich wieder angerufen – wegen des Mietvertrags.“
833 Menschen hatten 2019 dank neunerhaus ein Zuhause – davon 258 Frauen, 314 Männer und 261 Kinder.
Dieser Beitrag erschien erstmals im neunerhaus Jahresbericht 2019.