Wohnungslosenhilfe anders denken: Bei Housing First ist die eigene Wohnung der Startpunkt für den Weg zurück in die Selbstständigkeit. So war es zum Beispiel bei Herbert V., der heute selbst in der Wohnungslosenhilfe arbeitet, und Mohammad B., der seine drei Kinder allein erzieht. Für diese Reportage erzählen die beiden ihre Geschichten.
„Wohnen ist für mich das Größte überhaupt“, sagt Herbert V., der nach mehreren Monaten Wohnungslosigkeit heute im 9. Wiener Gemeindebezirk lebt. „Du kannst nur erfolgreich sein, wenn du deine eigene Wohnung hast – wo du hinkannst, wo du zurückkannst, wo du abschalten kannst.“ Herbert V. sitzt auf einem Barhocker in seiner Küchenecke, von der aus man beinahe den ganzen Wohnraum überblicken kann. Ein großes Fenster erhellt das Zimmer, das durch eine Trennwand vom Eingangsbereich abgegrenzt wird. „Ich hätte mir nie vorstellen können, dass ich einmal wohnungslos sein werde“, erzählt er. Kurz bevor seine langjährige Freundin gestorben ist, hat er seine Ausweise verloren. Dass er jahrelang in keiner Wohnung gemeldet war, stellte sich als fatal heraus: „Erst da habe ich begriffen, wie weitreichend die Folgen meiner fehlenden Meldungen waren. Nach dem Begräbnis meiner Freundin bin ich zur Polizei gegangen und habe mich selbst angezeigt, wegen Verstoß gegen die Meldepflicht. Ich habe ihnen die ganze Geschichte geschildert und wurde dann in eine Notschlafstelle geschickt“, berichtet er.
Durch seine fehlenden Meldungen hatte Herbert V. keinen Anspruch auf eine Gemeindewohnung. Nach mehreren Monaten in der Notschlafstelle wurde er an neunerhaus vermittelt und hat dort schlussendlich eine Zusage für eine Housing First Wohnung bekommen: „Bei neunerhaus war von Anfang an ein vertrautes Gefühl da. Ich habe mich verstanden gefühlt – da war jemand, der mir zugehört und versucht hat, das Beste für mich zu finden.“ An die erste Nacht in der neuen Wohnung erinnert er sich: „Ich hab gar nicht schlafen können, ich war so aufgeregt!“
Housing First denkt Wohnungslosenhilfe anders. Die Idee ist einfach: Das beste Mittel gegen Wohnungslosigkeit ist eine eigene Wohnung. Zusätzlich gibt es professionelle Betreuung nach Bedarf und auf freiwilliger Basis. Housing First hebt sich von anderen Formen der Wohnungslosenhilfe vor allem dadurch ab, dass obdach- und wohnungslose Menschen nicht erst beweisen müssen, dass sie „bereit“ für eine eigene Wohnung sind. In den klassischen Angeboten der Wohnungslosenhilfe bestand der Weg in die eigene Wohnung aus mehreren Stufen, bei denen jeweils Auflagen erfüllt werden mussten.
Bei Housing First ist das anders: Nutzer*innen sind Mieter*innen wie alle anderen und müssen über das Zahlen der Miete und der üblichen Pflichten von Mietenden hinaus keine weiteren Auflagen erfüllen. Housing First dreht deshalb die Reihenfolge um: Zuerst kommt die Wohnung, die Stabilität vermittelt, danach können bestehende Probleme aufgearbeitet werden. Dass dieses Modell funktioniert, zeigen die Zahlen: Nach Ende der Betreuung leben 92 Prozent der von neunerhaus in den letzten zehn Jahren vermittelten Mieter*innen weiterhin in ihren Housing First Wohnungen.
Mohammad B. steht im Stiegenhaus vor seiner Wohnungstür und blickt zum Hauseingang herunter. Wasser ertönt plätschernd aus dem Badezimmer. „Meine Tochter duscht gerade“, erklärt er und führt uns durch die Wohnung. Die Räume sind hell, an den Wänden hängen Fotos und Zeichnungen, auf dem Bett in einem der Kinderzimmer liegt ein riesiger Teddybär. Im Wohnzimmer erzählt er seine Geschichte: Nach mehreren Jahren in Österreich verbrachte die Familie eine Zeit in Bangladesch. Das hatte schwerwiegende Folgen: Als sie zurück nach Österreich wollten, wurde der Mutter die Einreise verwehrt. Sie hat als einzige nicht die österreichische Staatsbürgerschaft und ihr vorher gültiger Aufenthaltstitel war nicht mehr gültig. Voraussetzung für einen neuen Aufenthaltstitel ist ein Mindesteinkommen – eine Anforderung, die die Familie bisher nicht erfüllen konnte. Sie musste in Bangladesch bleiben und hat seitdem die Familie nicht mehr gesehen. Mohammad B. kümmert sich deshalb allein um die Kinder, die heute 13, 16 und 17 Jahre alt sind. In seinen früheren Job als Koch konnte er aus gesundheitlichen Gründen nicht zurück, heute ist er in Invaliditätspension.
Aufgrund seiner finanziellen Situation war es für Mohammad B. schwierig, am privaten Mietmarkt eine neue Wohnung zu finden. Weil er in den Jahren zuvor nicht in Wien gemeldet war, kam eine Gemeindewohnung nicht in Frage. Schlussendlich fand sich die Familie auf der Straße wieder: „Die ersten Tage sind wir bei Bekannten untergekommen, danach waren wir in einem Wohnhaus für Familien. Es war eine große Erleichterung, dass wir dann diese Wohnung über neunerhaus bekommen haben.“
Besonders Familien und Alleinerziehende, die ihr Zuhause verlieren, brauchen so schnell wie möglich wieder eine eigene Wohnung. Denn eine Notschlafstelle oder ein Gästezimmer bei Bekannten sind keine geeigneten Orte für Kinder – es fehlt an Privatsphäre, an Platz und oft auch an Sicherheit. Während viele Angebote der Wohnungslosenhilfe auf alleinstehende erwachsene Männer ausgerichtet sind, bietet eine eigene Wohnung einen Rückzugsort, der den Bedürfnissen von Alleinerziehenden und Familien gerecht wird. Bei neunerhaus sind deshalb fast die Hälfte der Housing First Mieter*innen weiblich – 44 Prozent sind Kinder.
Housing First entstand in den 1990er Jahren in den USA und wird seither auch in vielen anderen Ländern umgesetzt. In Wien wurde Housing First vor zehn Jahren von neunerhaus in Zusammenarbeit mit dem Fonds Soziales Wien eingeführt. Mittlerweile ist Housing First fester Bestandteil der Wiener Wohnungslosenhilfe geworden. Um passenden Wohnraum zu suchen und zu finden, gründete neunerhaus 2017 das Tochterunternehmen neunerimmo, das in Zusammenarbeit mit Sozialorganisationen und Partner*innen aus der Immobilienbranche unter anderem leistbaren Wohnraum für Housing First akquiriert. „Die Immobilienpreise steigen kontinuierlich und die Suche nach leistbarem Wohnraum wird immer schwieriger. Unser Ziel ist, möglichst vielen von Armut oder Wohnungslosigkeit betroffenen Menschen wieder ein Zuhause zu geben“, sagt Daniela Unterholzner, Geschäftsführerin von neunerhaus und neunerimmo.
Nachdem Herbert V. in seine Housing First Wohnung eingezogen ist, hat er wieder begonnen zu arbeiten – und zusätzlich bei neunerhaus den Zertifikats-Kurs Peers der Wohnungslosenhilfe absolviert. Mittlerweile arbeitet er als Peer in einem Wohnhaus für obdach- und wohnungslose Menschen. „Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal mit Menschen arbeiten werde, die keine Wohnung haben. Heute kann ich mir gar nichts anderes mehr vorstellen!“, erzählt er und lacht.
Dieser Beitrag ist erstmals in den neuner News, Ausgabe #47, erschienen.