Ein Phönix und ein Drache

Symbolbild © Christoph Liebentritt

Yvonne K. ließ sich vor einiger Zeit selbst einweisen. Sie hat schwere psychiatrische Erkrankungen. Gerade wohnt sie im neunerhaus Billrothstraße, einem Chancenhaus für junge obdach- oder wohnungslose Menschen. Hier will sich die 19-jährige Wienerin stabilisieren, wieder aufstehen und stark sein, wie der Phönix und der Drache, die sie immer bei sich hat.

„Ich bin seit ein paar Monaten in der Biro“, erzählt Yvonne K. „Biro“ nennen die Bewohner*innen ihr vorübergehendes Zuhause – das Chancenhaus für obdach- und wohnungslose Menschen im 19. Wiener Gemeindebezirk. Es bietet 41 jungen Erwachsenen zwischen 18 und 30 Jahren einen sicheren Wohnplatz für mehrere Monate und professionelle Unterstützung, um wichtige Dinge zu klären: Wo kann ich später wohnen, wie finde ich eine Arbeit oder eine Ausbildung?

Yvonne K. hat die Matura in der Tasche, ein Freiwilliges Soziales Jahr begonnen. Ihre Interessen sind klar: Politik, Geschichte und kreatives Schaffen. Beruflich möchte sie das verbinden. Doch zuerst, sagt sie, müsse sie gesund werden. Schwere psychiatrische Diagnosen, unter anderem Depressionen, führten bei ihr zum Langzeitkrankenstand. Und vor einigen Monaten zu akuter Obdachlosigkeit.

„Wenn ich psychisch wirklich fertig bin, dann schlafe ich. Dann ziehe ich mich in den Schlaf zurück. Wenn es sein muss, den ganzen Tag.“

In einer depressiven Phase versucht Yvonne K. viel zu schlafen. Oder sie hört Musik, um sich irgendwie „rauszuholen.“
Kindheit ohne Sicherheit

Wenn die 19-jährige Yvonne K., die in einer Einrichtung für obdach- und wohnungslose junge Erwachsene lebt, von ihrer Gegenwart erzählt, nimmt sie einen mit in ihre Vergangenheit und ihre Kindheit. Dahin mit, wie sie aufgewachsen ist. Yvonne K. heißt eigentlich anders und will nicht, dass irgendjemand auf sie oder ihre Familie rückschließen kann. Aus diesem Grund wird ihre Kindheit nur umrissen, Details werden keine genannt. Yvonne K.s leibliche Eltern konnten sich nicht um sie kümmern, sie wuchs in Pflegefamilien auf. Sie wünscht sich Geborgenheit, Akzeptanz, Sicherheit, Liebe, das Gefühl, so angenommen zu werden, wie sie ist. Es sollen unerfüllte Wünsche bleiben. Das Verhältnis zur Pflegefamilie ist heute von Misstrauen geprägt, sie hatte das Gefühl, kontrolliert und manipuliert zu werden. Es gab viel Streit. Sie erzählt von frühen Missbrauchserfahrungen.

Die Entwicklungspsychologie geht davon aus, dass die ersten Lebensjahre entscheidend für das spätere Leben sind. Fehlen in der Kindheit Liebe, Zuneigung und Sicherheit und/oder sind Kinder stattdessen Gewalt und Missbrauch ausgesetzt, kann das für Betroffene schwere soziale, emotionale, psychische und auch körperlichen Folgen haben. Das Risiko für psychische Erkrankungen wie Depressionen, posttraumatische Belastungsstörungen oder Borderline steigt. Sie weisen erhöhtes Suchtpotential und Risikoverhalten auf.

„Weil es einfach keine Person gibt, die mir zuhört, die mir glaubt. Ich brauche keine Familie, die nach außen hin perfekt wirkt, aber innen komplett zerstört ist.“

Yvonne K. will nicht zurück zu ihrer Familie. Im neunerhaus Billrothstraße findet sie ein vorübergehendes Zuhause.

Jung und obachlos in Wien

Als Yvonne K. von ihrer Pflegefamilie vor die Tür gesetzt wurde, zog sie zu ihrem Freund. Ihre psychischen Erkrankungen hatten sich da bereits manifestiert. Das junge Paar ist teils überfordert mit der neuen Situation. Es war eine kalte Nacht Anfang November letzten Jahres, als sie beschloss zu gehen. In der Wiener Innenstadt rief sie selbst die Rettung. Zu gefährlich erschienen ihr die Gedanken, die sie gegen sich selbst und ihr Leben hegte. Sie ließ sich einweisen.

Über 11.500 Menschen in Wien sind obdach- oder wohnungslos. Davon sind 19% jünger als 30. Ihre Kindheit und ihre Jugend sind meist geprägt von Traumata, Krisen, Konflikten, Verlusten und Verlassen-Werden. Ihre familiären und sozialen Netzwerke sind entweder nicht stark genug oder nicht vorhanden. Sie stehen mit der Ausbildung und dem Beruf noch am Anfang, haben wenig bis gar kein Einkommen. Gleichzeitig fehlen leistbare Wohnungen – und finanzielle Ressourcen für die Kaution, Anschaffungen, Transport etc. Nicht alle, die Zugang zum kommunalen Wohnbau und damit leistbaren Wohnraum brauchen, haben ihn auch.

„Jugendliche sind nie selber dran schuld. Es sind vielleicht psychische Probleme, Belastungen oder familiäre Gründe. Oder die Familie hat nicht die finanziellen Mittel, um einen zu unterstützen. Dann ist es einfach schwieriger, eine gute Ausbildung zu finden. Oder du musst selbst deiner Familie aushelfen und kannst nicht genug in dich selbst investieren.“

Die 19-jährige Bewohnerin bringt junge Obdach-und Wohnungslosigkeit auf den Punkt.

Ein sicherer Hafen. Chancenhaus neunerhaus Billrothstraße

Yvonne K. wurde stationär in eine Psychiatrie aufgenommen. Noch im November 2024 zog sie in das Chancenhaus neunerhaus Billrothstraße. Sie weiß, was sie braucht, damit es ihr gut geht, oder zumindest besser geht. Unterstützung erhält sie auch im Chancenhaus. Für Menschen mit psychiatrischen Diagnosen kann es schwer sein, den Alltag oder bestimmte Aufgaben alleine zu meistern. „Wenn es Amtsgänge sind oder so, dann mache ich das nicht alleine und schaue, dass mir jemand dabei hilft, dass es mich eben nicht so runterzieht und stresst“, nennt die junge Bewohnerin ein Beispiel.

In schweren Phasen versucht sie viel zu schlafen. Was ihr noch hilft, ist Musik. Damit kann sie sich kurz in ein Hoch manövrieren. Auch das Schreiben und das Zeichnen geben ihr Kraft. Zwei Zeichnungen trägt sie immer bei sich. Einen Phönix und einen Drachen: „Diese Zeichnungen sind in einer Zeit entstanden, in der ich sehr viel mit mir zu kämpfen und große Selbstzweifel hatte. Den Phönix habe ich, weil ich oft gefallen bin, aber immer wieder aufstehen kann. Der Drache taucht auf, wenn es etwas gibt, das mich belastet. Er reißt es dann mit sich, damit es mir wieder gut gehen, damit ich eben wieder auferstehen kann.“

Aktuell ist Yvonne K. noch im Krankenstand. Ihre Ausbildung im Sozialbereich will sie dann wieder aufnehmen. Doch zuerst will sie sich um ihre Gesundheit kümmern. Seit sie im Chancenhaus wohnt, sei sie wieder mehr dahinter: „Es ist so, dass mich mein Leben wieder mehr interessiert.“ Ihr Sozialarbeiter Paul P. spielt dabei auch eine wesentliche Rolle, erzählt sie. Und sie ist stolz darauf, in den wenigen Monaten im Chancenhaus bereits spürbar an Selbstständigkeit gewonnen zu haben.


Zukunft ohne Zuhause. Wenn junge Menschen obdach- oder wohnungslos sind.

Fast jede*r Fünfte in der Wiener Wohnungslosenhilfe ist unter 30. neunerhaus ist für sie da und setzt sich für ihr Recht auf Wohnen, ein würdevolles Leben und eine selbstbestimmte Zukunft ein. Hier erzählen wir, wie wir das machen.