„Das Leben hat mir eine andere Geschichte geschrieben.“

Jenifer A. wirkt zurückhaltend. Doch als Peer setzt sie sich vehement für obdach- und wohnungslose Menschen ein. Und auch sonst hat die 29-Jährige, die Zeit ihres Lebens ohne festen Wohnsitz war, viel zu sagen. Vor allem über Wohnungslosigkeit.

© Christoph LIebentritt

Ihren Dienstausweis behält sie meist im Rucksack. Ein Ausweis, der bestätigt, dass sie als Peer in einer Einrichtung für wohnungslose Menschen arbeitet. Peer sein heißt, sie war selbst einmal betroffen, also wohnungslos. Wenn Jenifer A. Menschen, die gerade obdach- oder wohnungslos sind, erzählt, dass sie auch mal in ihrer Situation war, „passiert ganz viel. Es öffnet sich eine Tür zu den Menschen, sie sehen dich ganz anders, haben keine Angst mehr vor dir“, schildert die 29-Jährige. Ihren Ausweis hält sie zurück, um zwischen ihr und den Klient*innen Gleichheit herzustellen. Nur in Ausnahmesituationen zeigt sie ihn. So wie damals in einem Möbelgeschäft, als der Verkäufer ihrer Klientin keinen Kostenvoranschlag erstellen wollte. Sie verlangte den Vorgesetzten. „Ich habe einen starken Gerechtigkeitssinn“, lacht sie.

Seit der Kindheit ohne feste Bleibe.

Jenifer A. wuchs im 23. und im 10. Wiener Gemeindebezirk auf. Als Kind lebte sie eine Zeitlang in einer betreuten Wohngemeinschaft, kommt wieder nachhause. „Im Peer-Kurs habe ich gelernt, dass ich seit meinem vierten Lebensjahr wohnungslos war“, erzählt sie. Als sie älter wird, wohnt sie eine Weile bei Freundinnen, zieht dann wieder zu ihrer Mutter zurück. Dort ist der Platz eng: „Wir haben auf Matratzen am Boden geschlafen, wie Sardinen.“ Als junge Erwachsene verdient sie ihr Geld als Heimhilfe, dann als Kindergartenassistentin und zieht in eine Gemeindewohnung. Ihr damaliger Freund ist finanziell von ihr abhängig. Sie von ihm psychisch. Er schlägt sie. Sie häuft Schulden an, verliert die Wohnung. Wieder kommt sie mal dort, mal da unter. Bei Freundinnen, bei ihrer Mutter. Eine Nacht, sie erinnert sich genau, verbrachte sie auf einer Parkbank.

Das Leben hat mir eine andere Geschichte geschrieben.

Jenifer A. über ihre jahrelange Wohnungslosigkeit

Zuerst die Wohnung, dann alles andere

Jenifer A. dockt bei einer Beratungsstelle für obdach- und wohnungslose Menschen an. Für ihre Schulden hat sie bereits eine Ratenzahlung vereinbart, ihr gesamtes Einkommen geht dafür drauf. „Ich habe damals mit vielleicht 100 Euro gelebt.“ Sie bekommt eine Wohnung, wird sozialarbeiterisch betreut. Als sie einen Flyer vom neunerhaus Peer Campus sah, wusste sie sofort: „Diese Ausbildung will ich machen.“ Im Frühjahr 2024 hat sie diese abgeschlossen, nur wenige Tage danach beginnt sie ihre neue Arbeit. Wenn sie ihr Gehalt bekommt, überweist sie als allererstes die Miete. „Ich glaube, die Angst, die Wohnung zu verlieren, wird mich immer begleiten. Wenn du weißt, wo du mal warst, willst du dorthin nicht mehr zurück.“ Von ihren Freundinnen hört sie oft, dass sie sich ihre Wohnungen oder das Leben nicht leisten können, dass das Geld knapp ist, sie nicht über die Runden kommen. Das beunruhigt sie.

Mit Vorurteilen aufräumen

„Wie einsam das Leben ist“, antwortet Jenifer A. nachdenklich auf die Frage, was man ihrer Meinung nach über Obdach- und Wohnungslosigkeit wissen sollte. In Österreich ist ein Drittel der rund 20.000 obdach- und wohnungslosen Menschen weiblich. Viele leben in verdeckter Wohnungslosigkeit. Auch Jenifer A. kennt in ihrem persönlichen Umfeld Frauen, die davon betroffen sind. Deshalb will sie mit dem Klischee aufräumen, nur Männer seien obdachlos. Und dass alle obdach- und wohnungslosen Menschen ein Suchtproblem hätten: „Ich habe keine Erfahrung mit Sucht und trotzdem war ich wohnungslos.“

Im Herbst 2024 zieht Jenifer A. in den 10. Bezirk . Wie die jetzige Wohnung wird auch das neue Zuhause einen Balkon haben. Der Balkon ist ihr „absoluter Ruheort. Balkon oder Badewanne, das ist ein Muss“, lacht sie herzlich, um gleich darauf wieder ernst zu werden: „Es ist alles gut, was man hat. Man ist nicht draußen im Regen oder im Schnee.“

Übrigens, den Kostenvoranschlag im Möbelgeschäft haben sie am Ende bekommen. Und einen gratis Kaffee im Restaurant des Geschäfts.