„Erschöpft von der eigenen Welt“

© Christoph Liebentritt

Markus K. schildert, was es heißt, aufgrund einer Krankheit nicht mehr arbeiten zu können und die Wohnung zu verlieren. Heute steht der Bewohner des neunerhaus Hagenmüllergasse wieder im (Berufs-)Leben. Er ist Peer der Wiener Wohnungslosenhilfe.

Der Tag, an dem Markus K. delogiert wurde, hat sich in sein Gedächtnis eingebrannt. 2018 wurde er an einem Montag um 6:30 Uhr morgens von einem Bohrgeräusch geweckt. Sein Türschloss wurde aufgebrochen. Acht fremde Menschen verschafften sich Zugang zu seiner Wohnung und begannen, sein Hab und Gut in Kisten zu packen. Was er am nötigsten brauchte, verstaute er in einem Rucksack und einer Reisetasche: Dokumente, Unterlagen, Dinge des täglichen Gebrauchs. Und eine Geburtstagskarte seines verstorbenen besten Freundes. Die Delogierung traumatisierte den gelernten Einzelhandelskaufmann. Dennoch, so erzählt er, fiel mit der Delogierung der Druck von ihm, funktionieren zu müssen. Nun galt er als „offiziell gescheitert“, wie er heute erzählt.

Erschöpft von der eigenen Welt. Wie es ist, eine Depression zu haben. Markus K. verlor aufgrund seines Burnouts und seiner Depression die Wohnung. Er war nicht mehr arbeitsfähig, nicht im Stande, Hilfe anzunehmen oder zu suchen. Er zog sich mehr und mehr zurück, brach Kontakte ab: „Es ist nicht so, dass du nicht an dein Telefon rangehen willst, wenn es
läutet. Aber du kannst es nicht. Das kann für das Umfeld schwer sein, es braucht Zeit und Sensibilität, um depressive Menschen zu erreichen“, so der heute 42-Jährige.

„Depressive Menschen fühlen nicht nichts. Das Gegenteil ist der Fall. Du fühlst viel – zu viel.“

Der Bewohner des neunerhaus Hagenmüllergasse hat sich eingehend mit seiner Depression auseinandergesetzt.

Markus K. beschreibt die Krankheit wie eine nicht anhaltende Fahrt mit einem Karussell: „Du bist erschöpft von deiner Welt. Aber nicht auf eine produktive Weise, sondern auf eine destruktive Weise.“ In diesem Video spricht er ausführlich über Depressionen.

Gesundheit ist mehr als die Abwesenheit von Krankheit

Dieser Definition von der WHO (Weltgesundheitsorganisation) fühlt sich neunerhaus verpflichtet. Das medizinische Angebot ist umfassend: Menschen, die nicht versichert oder obdach- oder wohnungslos sind, werden im neunerhaus Gesundheitszentrum versorgt. Es werden aber nicht nur Krankheiten und Verletzungen behandelt. So sind etwa auch Sozialarbeiter*innen in der Margaretenstraße 166 im

Wiener Gemeindebezirk tätig, um die Lebensbedingungen der Patient*innen nachhaltig zu verbessern. Zusätzlich leistet die neunerhaus Praxis Psychische Gesundheit niederschwellige Hilfe für Patient*innen, die psychisch besonders belastet sind. Allein 2024 wurden über 1.400 Gespräche geführt.

Hilfe in den neunerhaus Wohnhäusern

Obdach- und Wohnungslosigkeit zählen zu den extremsten Formen von Armut. Menschen, die lange Zeit auf der Straße gelebt haben, nicht wussten, wo und wie sie die nächste Nacht verbringen werden, sind oft am Ende ihrer körperlichen und psychischen Kräfte. Krankheiten verschlechtern sich. Deshalb arbeiten in den neunerhaus Wohnhäusern Betreuungsteams aus Sozialarbeiter*innen, Assistent*innen für Wohnen und Alltag, Peer-Mitarbeiter*innen, Gesundheitsfachkräfte und mobile Ärzt*innen mit externen psychiatrischen und psychologischen Fachdiensten zusammen, um die Gesundheit der Bewohner*innen zu stabilisieren, zu verbessern und – wo nötig – wiederherzustellen.

Ein langer Weg zurück. Aber einer, den er nicht alleine gehen muss

Die Wohnung zu verlieren, hieß für Markus K., nicht er selbst zu sein, sich noch weiter zurückzuziehen und ständig auf Hilfe angewiesen zu sein – was, wie er sagt, an seinem Selbstwert nagte. Nach seiner Delogierung kam Markus K. zunächst bei Freunden unter. Der Raum war beengt, es war eine Lösung auf Zeit. Also begann Markus K. nach nach Unterstützung für obdach- und wohnungslose Menschen zu suchen. Nach einigen Stationen in der Wiener Wohnungslosenhilfe zog Markus K. schließlich ins neunerhaus Hagenmüllergasse. Dort wird er sich das erste Mal seit langem wieder wie zuhause fühlen.

Markus K. arbeitet inzwischen in der Wohnungslosenhilfe. Nach dem Einzug ins neunerhaus Hagenmüllergasse begab sich Markus K. in Therapie, in der sich langsam aber sicher ein Gedanke herauskristallisierte: Er möchte sich sozial engagieren. 2024 bewarb er sich für die Ausbildung zum Peer der Wohnungslosenhilfe am neunerhaus Peer Campus. Was 2017 als innovatives und vor allem mutiges Projekt startete und gemeinsam mit dem Fonds Soziales Wien entwickelt wurde, ist mittlerweile in der Wiener Wohnungslosenhilfe nicht mehr wegzudenken. Ehemals obdach- und wohnungslose Menschen arbeiten Seite an Seite mit Sozialarbeiter*innen und anderen Berufsgruppen in Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe. Peers bringen ihre Perspektive und ihre Expertise als ehemals Betroffene ein. Für viele Absolventinnen des neunerhaus Peer Campus ist es der erste Schritt zurück in die Berufswelt.

„Das ist keine Endstation.“

Markus K. über Obach- und Wohnungslosigkeit

Der siebenmonatige Zertifikatskurs verlangt den Teilnehmer*innen vieles ab: Sich mit der eigenen Geschichte auseinandersetzen, Praktika absolvieren, Abschlussarbeiten schreiben und eine Abschlusspräsentation halten. Nicht alle, die die Ausbildung beginnen, beenden sie auch. Markus K. hat die Ausbildung 2025 erfolgreich abgeschlossen. Seit einigen Monaten arbeitet er in einer Einrichtung der Wiener Wohnungslosenhilfe. Er begleitet Betroffene zu Behördenterminen, führt Entlastungsgespräche, ist für sie da – und hat tiefstes
Verständnis für ihre Situation, über die er sagt: „Das ist keine Endstation.“


© Christoph Liebentritt

Markus K. ist Teil der Kampagne #ÜberLebenReden. Was für ihn den Unterschied zwischen Leben und Überleben ausmacht, erzählt er hier: neunerhaus.at/ueberlebenreden

In der neuen Kampagne #ÜberLebenReden kommen Menschen zu Wort, die wohnungs- oder obdachlos waren. Sie erzählen in kurzen Videos von ihren ganz persönlichen Erlebnissen und Begegnungen.