„Mein Wien.“

Patientin Annamaria N. und DGKP Therese R. haben ein enges Vertrauensverhältnis © neunerhaus

Annamaria N. kommt im Jänner 2025 mit nichts außer fragmentarischen Erinnerungen an ihr Leben und ihr früheres Wien in die Bundeshauptstadt zurück. Kein Ausweis, keine Dokumente, keine Bleibe. Ihre offene und liebenswürdige Art kann nicht über ihre Situation hinwegtäuschen: Sie ist eine wohnungslose Frau im Alter von 86 Jahren, vermutlich an Demenz erkrankt, nicht versichert und sie hat niemanden in Wien. Eine Geschichte in Bruchstücken.

„Nicht, dass ich darin ausschau‘ wie eine dicke Nudel!“, lacht Annamaria N., als sie im neunerhaus Gesundheitszentrum eine Hose begutachtet. Draußen wird es wieder wärmer, sie benötigt leichtere Kleidung. Als die 86-Jährige zum ersten Mal ins neunerhaus Gesundheitszentrum kam, war es draußen noch kalt. Sie trug nicht nur abgetragene Kleidung, sondern sichtbare Spuren von Obdachlosigkeit. Seit Wochen war es ihr nicht möglich zu duschen, ihre Kleidung zu waschen, ihre Haare zu machen.

„Ohne Versicherungsschutz ist es so gut wie unmöglich, eine Demenzerkrankung abzuklären“, erklärt Therese R., diplomierte Gesundheits- und Pflegefachkraft im neunerhaus Gesundheitszentrum. Das liege am fehlenden Versicherungsschutz einerseits, aber in erster Linie daran, dass das unterstützende Umfeld und Netzwerk fehlt: Wem fällt es auf, dass etwas nicht stimmt, jemand vergesslich, desorientiert, verwirrt ist? Wer organisiert für Betroffene Termine, erinnert daran und begleitet sie dazu? Dass Annamaria N. den Weg ins neunerhaus Gesundheitszentrum gefunden hat, ist dem engagierten Team im Notquartier zu verdanken, in dem die 86-Jährige untergebracht ist. Seither wird sie regelmäßig von Therese R. betreut, die ein enges Vertrauensverhältnis zur 86-jährigen Patientin aufgebaut hat und sie zweiwöchentlich bei der Körperpflege unterstützt: Beim Duschen, beim Haare waschen, beim Nägel schneiden. Und bei Bedarf neue Kleidung mit ihr auswählt.

Während Therese R. in der Kleiderkiste nach einer passenden Hose und einem T-Shirt sucht, sitzt Annamaria N. wartend auf der Liege und erzählt. Sie erzählt von einer zerbrochenen Liebe im Notquartier, von einer Intrige im kroatischen Chor, in dem sie einst gesungen hat. Sie lebte in Kroatien, in Deutschland, in Schweden. Ihr Wien, so sagt sie, habe sie vermisst, deshalb sei sie wieder hier. Sie habe eine Handvoll Kinder, ihre Mutter sei Ärztin in Wien gewesen. Sie erzählt von einem Kloster, in dem sie aufgewachsen ist. Sie springt in der Zeit und in den Erzählsträngen. Manchmal, so scheint es, setzen sich ihre Erinnerungen im Erzählten neu zusammen. Als sie jedoch über das Kloster in der Kindheit spricht, und warum sie am liebsten dorthin zurück möchte, wird sie ganz klar und sagt: „Hier bin ich ganz alleine. Ich habe niemanden, wenn ich sterbe. Ich will nicht alleine sterben.“

„Ich will nicht alleine sterben!“

Annamaria N. ist 86 und macht sich Gedanken über ihren Tod.
Demenz und Obdachlosigkeit. Wenn sich Schwierigkeiten potenzieren

Eine Demenzerkrankung stellt Betroffene und Angehörige vor immense Herausforderungen. Für obdach- und wohnungslose Menschen vervielfachen sich die Schwierigkeiten im Alltag. Sie haben oft keine Angehörigen, die sich um sie kümmern könnten. Zumeist haben obdachlose Menschen auch bei altersbedingten Erkrankungen keinen Anspruch auf einen Platz in einer Pflegeeinrichtung. Die Wohnungslosenhilfe stellt dann oft das letzte Auffangnetz für sie dar, damit sie nicht auf der Straße landen. Dort fehlen aber wiederum ausreichend Pflegekräfte.

Warten auf einen Pflegeplatz

Die 86-jährige Annamaria N. kam ohne Ausweise, ohne Dokumente nach Wien. Es ist, als hätte sie nirgends existiert. Es ist unklar, ob sie erst mit ihrer Rückkehr nach Österreich obdachlos wurde, wo und wie sie davor gelebt hat. Es ist unklar, wie sie nach Wien gekommen ist, irgendwann fand sie den Weg in ein Notquartier. Annamaria N. macht zwar einen rüstigen Eindruck – kommt beispielsweise ohne Gehilfen zurecht, aber, so betont Therese R.: „Auch wenn Frau N. versichert wäre, bräuchte sie Unterstützung. Sie gehört nicht in ein Notquartier, sondern in ein Pflegeheim.“

Um die Versorgung und Unterbringung dieser hochbetagten Frau zu organisieren, sind das Pflegeteam und die Sozialarbeiter*innen im neunerhaus Gesundheitszentrum im engen Austausch mit dem Notquartier. Es sind drei Monate seit dem ersten Besuch von Annamaria N. im neunerhaus Gesundheitszentrum vergangen. Mittlerweile konnte für die 86-Jährige eine Erwachsenenvertretung und der Versicherungsschutz organisiert werden. Und sie ist auf der Warteliste für eine Pflegeeinrichtung. Bis sie dort einziehen kann, wird sie weiterhin alle zwei Wochen ins neunerhaus Gesundheitszentrum kommen. Dort hört man ihr zu, dort kümmert man sich um sie, dort leistet man professionelle Pflegearbeit.