
„Eigentlich kam ich wegen der Liebe.“ In Wien geblieben ist sie wegen ihres Sohnes. Langsam wird die 27-Jährige wieder zu jener Radmila, die sie früher war. Früher ist, bevor sie mit einem sechs Monate alten Baby alleine dastand und wohnungslos wurde. Sie musste ganz von vorne beginnen. Die Ausbildung zur Peer am neunerhaus Peer Campus hat ihr dabei geholfen.
Am Anfang war alles okay. Radmila M. ist 25, als sie schwanger wird und der Liebe wegen nach Wien zieht. In Serbien habe sie ihr „ganz normales Leben“ zurückgelassen, sagt sie. „Ich hatte ein Dach über dem Kopf, etwas zu essen, eine Arbeit.“ Nach der Geburt verfiel sie in einen depressionsartigen Zustand. Ihre Familie war hunderte Kilometer weit weg, von ihrem damaligen Freund erhielt sie nicht die Unterstützung, die sie brauchte. Sie wohnten bei seiner Mutter, der Platz war beengt, Privatsphäre gab es keine. Die junge Familie kämpfte mit sich und mit der neuen Situation. Das Geld war knapp. Sie sind in eine Einrichtung für obdach- und wohnungslose Familien gezogen. Zu dieser Zeit funktionierte Radmila M. nur noch.
Gebrochen. Kraftlos. Wohnungslos als junge Erwachsene.
Radmila M. fühlte sich zu jener Zeit selbst als Kind, das die Unterstützung der Eltern brauchte. Aber aus Sorge um ihre Eltern, und auch aus Scham, verschwieg sie ihre Situation. Wie könne es ihr auch schlecht gehen, wenn sie freiwillig nach Österreich gezogen ist? Erst als ihre Eltern sie in Österreich besuchten, haben sie gesehen, wie es ihrer Radmila wirklich ging. Sie ermutigten ihre Tochter, sich vom Vater des gemeinsamen Kindes zu trennen. Den Plan, mit dem Sohn nach Serbien zurückzugehen, verwirft sie. Das wäre ihr egoistisch vorgekommen, erzählt sie, „auch wenn wir nicht mehr zusammen sind, möchte ich, dass mein Sohn Kontakt zu seinem Vater hat. Deshalb bin ich hier »Ich wurde ins kalte Wasser geschmissen, und habe gelernt zu schwimmen.« Radmila M. geblieben.“ Ihr Sohn ist sechs Monate, als sie mit ihm ins Frauenhaus zieht. Wenn sie an diesen Moment zurückdenkt, kommen ihr drei Worte in den Sinn: Gebrochen, kraftlos, sinnlos. „Ich konnte meine Zukunft nicht mehr sehen. Ich dachte, dieser Zustand wird mein ganzes Leben dauern.“
Radmila M. musste innerhalb kürzester Zeit viel durchmachen: Sie ist in ein fremdes Land ausgewandert, wurde jung Mutter, wohnte mit dem Freund bei dessen Mutter, dann in einer Einrichtung für obdach- und wohnungslose Familien, sie trennt sich vom Freund und findet mit dem sechs Monate alten Baby Zuflucht in einem Frauenhaus. Sie war lange Zeit unter Schock, nahm nur durch einen Schleier wahr, was um sie herum passierte: „Ich schlief irgendwo, um mich herum fremde Leute. Plötzlich waren da Leute die mich beobachteten und schauten, ob ich eine gute Mutter bin. Da habe ich noch gar nicht gecheckt, dass ich eigentlich auch wohnungslos bin“, erzählt sie. Erst im Frauenhaus wurde sie sich ihrer Lage bewusst:
„Der Moment, wo du keinen Schlüssel hast, wo du anläuten und deinen Namen sagen musst, damit dich jemand reinlässt. Das war der Moment, in dem ich gecheckt habe: ‚Okay, hier stimmt etwas nicht. Ich bin nicht frei. Alles ist schief gegangen.'“
Radmila M. war wohnungslos – eine Zustand, der ihr zunächst nicht bewusst war.
Ihr Sohn sollte nicht hungrig ins Bett müssen
„Ich habe die alte Radmila vermisst.“ Ihre Ausgangslage war keine gute: Sie ist alleinerziehend, spricht kein Deutsch, hatte einen ungeklärten Aufenthaltsstatus und kein eigenes Einkommen. „Ich war in einer Situation, in der ich nur zuhause sitzen und nichts machen konnte“, fasst sie diese Episode zusammen und ist selbst erstaunt darüber, dass ihr das alles passieren konnte. Mit der alten Radmila hatten diese Person und dieser Zustand nichts zu tun: „Ich war immer viel unterwegs, war immer positiv, hatte einen Job, viele Freund*innen.“ Ihr schlimmstes Trauma, erzählt sie, sie es, dass sie Angst hatte, ihr Sohn müsse abends hungrig ins Bett. Ihre Familie schickte ihr immer wieder ein bisschen Geld, damit sie für ihren Sohn die Folgemilch und Babynahrung kaufen konnte.
Im Mutter-Kind-Haus schließt sie eine tiefe Freundschaft mit einer anderen Bewohnerin, die ihr von der Ausbildung zum Peer der Wohnungslosenhilfe am neunerhaus Peer Campus erzählt. Eine Sozialarbeiterin ermutigt sie, sich zu bewerben. Dafür ist Radmila M. dankbar: „Sie hat mein Potential gesehen, als ich es nicht sehen konnte.“ Ab da beginnt Radmila M. zu kämpfen, aufzustehen, oder um es mit ihren eigenen Worten zu sagen: „Ich wurde ins kalte Wasser geschmissen und habe dort schwimmen gelernt.“ Nach kurzer Zeit spricht sie fließend Deutsch, im März dieses Jahres hat sie die Ausbildung zur Peer der Wohnungslosenhilfe abgeschlossen: „Ich will mein eigenes Geld verdienen und am Ende des Tages nachhause gehen können und das Gefühl haben, was urgutes gemacht zu haben“, lässt sie sogar das Wienerische durchblitzen. Sie ist überzeugt, jeder hat seinen oder ihren eigenen Weg zu gehen, manche brauchen jemanden, derdie ihnen den Weg zeigt und Mut macht. Das will sie zukünftig als Peer der Wiener Wohnungslosenhilfe tun.
„Als obdach- und wohnungslose Person hat man nicht nur kein Dach über dem Kopf, sondern auch keinen Platz in der Gesellschaft.“
Radmila M. hat am eigenen Leib erfahren, was es heißt obdach- und wohnungslos zu sein.
Ihr eigener Weg ist noch nicht ganz zu Ende.
Radmila M. freut sie sich auf die Arbeit als Peer und darauf, wieder Geld verdienen zu können. Und auf eine eigene Wohnung: „Freiheit. Freiheit und Privatsphäre – das bedeutet eine eigene Wohnung für mich. Dass ich frei entscheiden kann, wann ich rausgehen will, wann Besuch kommt, dass ich überhaupt Platz habe, Leute zu mir einzuladen. Ich vermisse einen Herd mit Backofen und eine eigene Waschmaschine.“ Hier lacht sie ihr herzliches Lachen: „Damit ich nicht warten muss, bis meine Wäschekörbe voll sind und ich einmal wöchentlich waschen kann!“ In Wien hat sie sich mittlerweile eingelebt. Sie hat Freundschaften geschlossen, ihr Sohn hat regelmäßigen Kontakt zu seinem Vater. Ihr Sohn sei ein glückliches Kind, sagt sie. Und auch die alte Radmila, die immer positiv gestimmt, unternehmungslustig und voller Tatendrang war, kehrt langsam, aber sicher wieder zurück.
Zukunft ohne Zuhause. Wenn junge Menschen obdach- oder wohnungslos sind.
Fast jede*r Fünfte in der Wiener Wohnungslosenhilfe ist unter 30. neunerhaus ist für sie da und setzt sich für ihr Recht auf Wohnen, ein würdevolles Leben und eine selbstbestimmte Zukunft ein. Hier erzählen wir, wie wir das machen.
Dieser Beitrag erscheint in der 56. Ausgabe der neuner News – dem Spendenmagazin von neunerhaus.