Zuwendung statt Ausgrenzung

Sandra H. arbeitet im neunerhaus Gesundheitszentrum © neunerhaus

Es ist der unangenehme Geruch der Wunde, wofür sie sich meist schämen und weshalb sie sich zurückziehen. Und warum die Menschen den Weg ins neunerhaus Gesundheitszentrum finden. Sandra H. ist Teil des Pflegeteams, das obdach- und wohnungslose sowie nichtversicherte Menschen versorgt. Ein Gespräch über Wunden, die kaum heilen, Gerüche, die isolieren und Beziehungen, die lindern.

Herr P. ist schon etwas älter, vermutlich an Demenz erkrankt. Er kommt wöchentlich ins neunerhaus Gesundheitszentrum, um sich eine Salbe gegen seinen Juckreiz abzuholen. Dabei geht es vordergründig gar nicht um die Creme, erzählt Sandra H. Sein Hautprobleme haben sie gut im Griff. Viele Patient*innen, die Sandra H. täglich sieht, suchen erst sehr spät medizinische Hilfe auf: Sie sind vielleicht nicht krankenversichert oder trauen sich aufgrund ihrer Lebensumstände – Obdach- oder Wohnungslosigkeit, nicht ins Krankenhaus. Ihre Wunden haben sich dann, so die diplomierte Gesundheits- und Krankenpflegerin, deshalb oft schon chronifiziert. Das heißt, eine Wundheilung ist dann sehr unwahrscheinlich. „Diese Wunden sind mit einem unangenehmen Geruch verbunden, und das ist den allermeisten Menschen sehr unangenehm“, weist Sandra H. auf dieses sensible Thema hin und gibt damit Einblick in ihren Arbeitsalltag.

Gerüche und ihre soziale Wirkung

Gerüche wecken Erinnerungen, beeinflussen Gefühle und prägen unser Verhalten. Gleichzeitig führen sie zu Bewertungen und Vorverurteilungen – etwa, das stark riechende Menschen ungepflegt seien. Wenn Patient*innen des neunerhaus Gesundheitszentrums eine riechende Wunde haben, schämen sie sich in der Regel und ziehen sich zurück. Das verstärkt ihre gesellschaftliche Ausgrenzung. Wie geht das Pflegeteam damit um? „Es ist eigentlich eine innere Haltung“, erzählt Sandra H. nach kurzer Nachdenkpause und ergänzt: „Meine Kolleginnen und ich, wir fokussieren uns auf den Menschen und das Gespräch. Der Geruch, der ist dann halt auch einfach da.“ Das Team pflegt einen offenen Umgang mit diesem Thema und spricht auch mit den Patient*innen darüber. Einen Geruch zu verschweigen, bringe nichts, denn dann könnte auch nicht überlegt werden, was man dagegen tun kann.

Leben unter widrigsten Umständen – Wundheilung kaum möglich

„Viele Menschen, die ins neunerhaus Gesundheitszentrum kommen, tragen einen sehr schweren Rucksack“, beschreibt Sandra H. die Zielgruppe. Ein Rucksack, der schwer wiegt und sich auf die gesamte Gesundheit auswirkt: Viele leiden auch unter psychischen Erkrankungen und Belastungen – wie depressive Verstimmungen – und weisen daneben noch weitere chronische Erkrankungen wie Diabetes, Bluthochdruck oder Herzschwächen auf. Sandra H. und ihre Kolleg*innen sind nah dran an den Patient*innen – nicht nur aufgrund der Pflegetätigkeiten. Sie kennen die Lebensrealität der Patient*innen. Müssen sie kennen, damit sie den Alltag der Patient*innen mit einer (chronifizierten) Wunde so erträglich wie möglich gestalten können. Es macht einen Unterschied, ob jemand einen Schlafplatz hat oder auf der Straße schläft. Ist die Person vor Kälte und Nässe geschützt? Hat sie eine Möglichkeit, sich und die Kleidung regelmäßig zu waschen? Kann Kleidung getrocknet werden? Auch wie jemand schläft, wirkt sich auf die Wundheilung aus: Hat jemand einen Wunde am Bein und kann nur im Sitzen schlafen, wirkt sich das nachteilig auf die Wundheilung aus.

„Menschen mit einer chronischen Wunde brauchen eigentlich eine hochkalorische ausgewogene Ernährung.“

Sandra H. gibt zu bedenken, dass genau das für die meisten ihrer Patient*innen aufgrund ihrer Lebensumstände kaum zu bewerkstelligen ist.

Das neunerhaus Café, das sich gleich neben dem neunerhaus Gesundheitszentrum befindet, bietet auch deshalb ein gesundes Mittagessen gegen eine freiwillige Spende an.

Zeit und Nähe als Kern der Arbeit

Wie verlieren Sandra H. und ihr Team, angesichts der prekären Lage der Zielgruppe und den geplanten Kürzungen im Sozialbereich, nicht den Mut? Einerseits durch den Austausch mit Kolleg*innen, durch das (Er-)Kennen der eigenen Grenzen und dann natürlich auch durch die vielen positiven Erlebnisse im Arbeitsalltag. Herr P., den Sandra H. zu Beginn erwähnte, freue sich jede Woche, wenn er die Hautcreme holt. Dahinter steckt mehr als die Linderung des Juckreizes: „Die Creme steht dafür, dass jemand einfach Zeit und Zuwendung braucht, Gespräche und Essen.“ Es sei die pflegerische Zuwendung und die Zeit für die Patient*innen, die den Arbeitsalltag erleichtern und auch für die Patient*innen so wertvoll sind – und auch den Heilungsprozess unterstützen.


Armut macht krank, Krankheit macht arm: Eine fehlende Krankenversicherung bedeutet, keinen Zugang zu medizinischer, psychosozialer und pflegerischer Versorgung zu haben. Auch Sprachbarrieren, Diskriminierung und Scham erschweren den Zugang ins Gesundheitssystem. Das neunerhaus Gesundheitszentrum bietet obdach-, wohnungslosen und nichtversicherten Menschen eine rasche und unbürokratische Versorgung und baut Brücken ins Gesundheitssystem. Für viele Patient*innen ist es oft der erste medizinische Kontakt nach Jahren in der Obdach- und Wohnungslosigkeit.  

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