„Und dann bin ich nur mehr abgerutscht.“

© Christoph Liebentritt

Verluste, Rückschläge und Obdachlosigkeit prägten den Weg von Angelika T. Sie wusste nicht, ob sie ihren 40. Geburtstag erleben wird. Heute blickt die Bewohnerin des neunerhaus Hagenmüllergasse optimistisch in die Zukunft und weiß, welche Schritte sie als Nächstes gehen wird. Nicht alleine, sondern mit neunerhaus an ihrer Seite.

Kater Balu streift durch das Wohnzimmer, hüpft auf ein Regal und hat genau im Blick, was hier in der Pärchen-Wohnung vor sich geht: Seine Besitzerin sitzt im Wohnzimmer und erzählt ihre Geschichte. Im Hintergrund läuft leise der Fernseher, die Wasserpumpe des Aquariums surrt monoton. Im Herbst 2023 ist Angelika T. mit ihrem Lebensgefährten und Kater Balu in das neunerhaus Wohnhaus für obdach- und wohnungslose Menschen im 3. Wiener Gemeindebezirk eingezogen. Nur einen Trolley, in dem sie ihre Papiere, Gewand und Familienfotos aufbewahrte, hatte sie bei sich. Und einen schweren, gut verschnürten Rucksack, in dem sie ihre Vergangenheit fest verschlossen hielt. Erst nach und nach wird sie beginnen, ihn auszupacken.

Ich lebe eigentlich nur, weil ich alles verdrängt habe.

Angelika T. habe kaum Erinnerungen an ihre Kindheit oder ihre Jugend, erzählt Angelika T. Die Eltern trennten sich, von den neuen Partner*innen fühlte sie sich nie akzeptiert. Die Mutter arbeitete viel, sie und ihre Schwester wurden von der Oma aufgezogen. In der Schule tut sich die kleine Angelika schwer. Versucht sie zu lesen, schläft sie nach ein paar Zeilen ein. Eine Lehre wird sie später abbrechen. Ihr Leben ist ein einziges Auf und Ab. Das, was ihr im Laufe der Jahre passiert – und sie habe viel „Mist erlebt“, sagt sie, versuchte sie zu verdrängen und zu vergessen, greift deshalb auch zu Drogen. Im Alter von 23 dann ein Lichtblick. Ihr Sohn kommt auf die Welt. Er ist das Wichtigste für sie und sie tut alles, um ihm ein gutes Leben zu ermöglichen. Es reicht nicht. Der Bub ist vier Jahre alt, als es zur Kindsabnahme kommt. Ein Jahr später stirbt ihre Mutter an Krebs. Im Jahr darauf ihre Schwester – ebenfalls an Krebs. Es sind Rückschläge, die sie endgültig aus der Bahn werfen: „Und dann bin ich nur mehr abgerutscht.“

Angelika T. in ihrer Küche mit Kater Balu © Christoph Liebentritt

Über 6.500 Frauen in Österreich sind laut Statistik Austria obdach- oder wohnungslos, über 3.600 davon leben in Wien. Die Dunkelziffer ist weitaus höher. Viele Frauen sind verdeckt wohnungslos – sie scheinen in den offiziellen Zahlen nicht auf, ziehen von Couch zu Couch, halten Unsagbares aus, um nicht auf der Straße zu landen. Auch Angelika T. schlief mal bei Freund*innen, lebte mal in Einrichtungen für wohnungslose Menschen, mal mit dem Ex-Freund zusammen. Nie für lange Zeit und meist ohne Meldeadresse, wodurch sie keinen Anspruch auf eine Sozialwohnung hatte. Im Winter 2012 dann die erste Nacht im Freien. Drei Wochen schlief sie auf der Donauinsel. In einem Zelt, das sie sich mit einer anderen Frau teilte. Zum Duschen gingen sie ins Hallenbad. „Man fühlt sich wie ein Nichts, aber nicht duschen zu können, zieht einen noch weiter runter“, erzählt Angelika T. Jahre später in ihrem Wohnzimmer, in dem Kater Balu um Aufmerksamkeit maunzt und sich langsam von seinem Regal herunter wagt. Er ist ihr zweites Baby, tröstet sie, wenn es ihr nicht gut geht, „er spürt das richtig.“ Er ist das Erste, worum sie sich morgens nach dem Aufstehen kümmert.

Spuren am Körper und auf der Seele.

Als Angelika T. in das neunerhaus Wohnhaus kam, war „sie total traurig und unzufrieden“, erzählt Claudia W. Seit vier Jahren arbeitet die junge, quirlige Burgenländerin als Assistentin für Wohnen und Alltag bei neunerhaus. Gemeinsam mit  Sozialarbeiter*innen unterstützt sie die Bewohner*innen, ihren Alltag selbstständig zu bewältigen. Sie begleitet zu Einkäufen, zu Behörden, zu Ärzt*innen und organisiert Freizeitaktivitäten. Claudia W., die kein Blatt vor den Mund nimmt, berichtet, dass die Bewohner*innen immer jünger werden, ihre Erkrankungen schwerwiegender und ja, dass sie deshalb zu Beginn auch mit einer eigenen Wohnung überfordert sein können. Woran das liegt? „Ich glaube, das liegt daran, dass viele in einem Heim aufgewachsen sind oder auf der Straße gelebt haben. Viele haben noch nie eine eigene Wohnung gehabt. Woher sollen sie wissen, wie man putzt oder Essen zubereitet?“ Auch deshalb initiierte Claudia W. die wöchentliche Kochgruppe.

Angelika T. (li) nimmt an der Kochgruppe von Claudia W. teil © Christoph Liebentritt

Angelika T. nimmt wieder an der Kochgruppe teil. Gesundheitliche Themen standen bald nach dem Einzug im Vordergrund und mussten dringend angegangen werden – eine Magenerkrankung stellte sich als lebensbedrohlich heraus. Das gesamte Team im neunerhaus Hagenmüllergasse arbeitete gemeinsam daran, dass Angelika T. gut versorgt wurde. Dass sie sich trotz ihrer großen Angst vor Krankenhäusern mehreren Operationen unterzogen hat, verdankt sie Claudia W.: „Sie war wirklich vom ersten Tag an dabei und hat mich auch ins Krankenhaus begleitet.“ Als Assistentin für Wohnen und Alltag kennt Claudia W. die Bewohner*innen sehr gut, pflegt eine vertrauensvolle Beziehung auf Augenhöhe mit ihnen. Sie erzählen ihr viel, sie ist oft sehr nah dran. Auf Angelika T., auf das, was sie gesundheitlich schon alles bewältigt hat und wie sie sich im Haus engagiert, ist sie sehr stolz: „Sie hat hier im Café s’ neunerl zu arbeiten angefangen und macht das wunderbar. Sie ist total lieb mit den Leuten und ist da, wenn man sie braucht. Das ist total schön.“

Zum ersten Mal das Gefühl von Zuhause. Die Operationen liegen nun einige Monate zurück. Angelika T. hat ihren 40. Geburtstag gefeiert und sie wuselt wieder durchs Haus. Sie kennt die Bewohner*innen, lässt ihnen beim Vorbeigehen einen Gruß oder ein aufmunterndes Wort da. Sie sorgt sich besonders um diejenigen, die ohne Partner oder Haustier eingezogen sind – beides für sie wertvolle Begleiter im Alltag.

Nachdem Angelika T. gemeinsam mit ihrem Partner und Kater Balu in das neunerhaus Hagenmüllergasse eingezogen ist, habe sich ihr ganzes Leben verändert. Zum ersten Mal fühlt sie sich wie  Zuhause. Sie hat nicht nur ihren Trolley ausgepackt und die Familienfotos aufgehängt, sie beginnt auch langsam mit dem Auspacken ihres schweren Rucksacks. Bald steht ein Reha-Aufenthalt an, bei dem sie sich auch mit sich selbst auseinandersetzen wird. „Das muss ich jetzt alles auf die Reihe kriegen. Ich muss jetzt wirklich mal auf mich schauen“, sagt sie. Sie nimmt ihre Gesundheit wichtig, sie nimmt sich wichtig. Vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben.


Dieser Beitrag erscheint in der 55. Ausgabe der neuner News – dem Spendenmagazin von neunerhaus. Das Magazin erscheint drei Mal jährlich. Lesen Sie hier die aktuellsten Ausgaben, stöbern Sie im Online-Archiv oder bestellen Sie ein kostenloses Print-Abo: Printversion bestellen