
Ermin D. ist 14 als er sich outet. Damit beginnt sich die Spirale aus Ablehnung und Gewalt zu drehen. Auch gegen sich selbst. Bis heute hat er manche Glaubenssätze von früher verinnerlicht. Über zehn Jahre lang war der heute 30-Jährige abwechselnd obdach- oder wohnungslos, bis er wieder in eine eigene Wohnung gezogen ist. Als wir ihn treffen, zieht er gerade wieder um und schließt die Ausbildung zum Peer der Wohnungslosenhilfe ab. Eine Geschichte über Abbrüche, Umbrüche und Aufbrüche.
Du absolvierst den Peer-Kurs, eine Ausbildung für obdach- und wohnungslose Menschen. Was hat bei dir zur Obdach- und Wohnungslosigkeit geführt?
Mit 14 habe ich mich bei meinen Eltern geoutet, das ging nicht gut. Es war Gewalt im Spiel, sie haben mich auf die Straße gesetzt. Bis ich ca. 27 war, war ich konstant obdach- oder wohnungslos, zwar mit Unterbrechungen in WGs oder in Wohnungen, die konnte ich aber nicht halten. Ich bin nach England gezogen, nach Deutschland gegangen, weil ich flüchten wollte.
Konntest du nach deinem Rauswurf bei den Eltern die Schule oder eine Ausbildung abschließen?
Ich habe eine Lehre gemacht und auch abgeschlossen, aber das war es dann auch. Ich habe öfters versucht, die Matura nachzuholen, aber es war mir einfach nicht möglich. Es gab sehr viele Hindernisse. Auch mental.
Wie bist du zum neunerhaus Peer Campus gekommen?
Derzeit lebe ich in einer eigenen, aber mobil betreuten Wohnung (siehe auch neunerhaus Housing First und Mobil betreutes Wohnen). Meine Sozialarbeiterin hat mir zugehört, sich meine Geschichte angehört. Dann hat sie mir einen Flyer in die Hand gedrückt und gesagt: ‚Hey, es wäre cool, wenn du das machen würdest!‘ Dafür bin ich ihr sehr dankbar.
Was hat sich durch die Ausbildung für dich verändert?
Wenn ich auf den Ermin vor Beginn des Kurses zurückschaue und auf den, der ich heute, sieben Monate später bin, hat sich sehr viel verändert. Indem ich gelernt habe, wie ich mit anderen Menschen besser umgehe, sie besser verstehe, habe ich gelernt, wie ich mit mir besser umgehe, wie ich besser mit mir reden und mich verstehen kann. Und das hat mich zu einem ruhigeren, zielgerichteteren, angenehmeren Menschen gemacht. Darauf bin ich sehr stolz.
„Ich habe lange Zeit nur überlebt und nicht gelebt. Nicht leben können.“
Ermin D. hat viele Jahre gekämpft, zuerst gegen sich, dann für sich.
Wie geht es dir kurz vor dem Abschluss der Ausbildung?
Mir geht’s super. Ich habe letzte Woche mein Praktikum beendet (Anm. im Rahmen der Ausbildung am neunerhaus Peer Campus absolvieren die Teilnehmer*innen ein verpflichtendes Praktikum in einer Einrichtung der Wohnungslosenhilfe). Ich musste meine alte Wohnung zurückgeben, weil ich sie mir nicht mehr leisten konnte. Ich bin in eine billigere Wohnung gezogen. Billiger, kleiner, schlechter. Der Umzug war mit viel Stress verbunden. Ich habe früher am Wilhelminenberg gelebt, mit einer tollen Aussicht. Da habe ich noch einmal über Wien geschaut und mir gedacht: Okay, das ist das Staffel-Finale. Ich habe das Gefühl, auch mit der Arbeit, jetzt beginnt mein Leben wieder. Ich habe lange Zeit nur überlebt und nicht gelebt. Nicht leben können.
Wie hat sich dein Verhältnis zu deiner Familie entwickelt?
Wir haben 15 Jahre lang nicht miteinander geredet, hatten keinen Kontakt. Wir haben uns ab und zu gesehen, weil ich manchmal, notgedrungen, bei meiner Großmutter leben musste. Letztes Jahr hat es dann begonnen, dass ich mich nicht mehr so stark von ihnen triggern lasse. Es ist mir auch wichtig geworden, wieder Kontakt zu meinen Wurzeln aufzunehmen. Für mich sind da sehr viele interessante Schritte in eine Richtung passiert, wo ich nicht gedacht hätte, dass das jemals passieren wird.
„Letztens hat mich mein Vater nach meinem Freund gefragt und wie es ihm geht.“
Sein Outing war der Auslöser für Ermin D. Obdach- und Wohnungslosigkeit. Mittlerweile fragt sein Vater ihn nach seinem Freund.
Was würdest du den Leser*innen gerne mitgeben?
Eine Sache: Wenn du in einem Haushalt oder einem Umfeld aufwächst, das dir konstant sagt: ‚Du bist scheiße, du bist kacke so wie du bist!‘, nimmst du das dein ganzes Leben mit. Es beeinträchtigt dich in allen Interaktionen und Beziehungen – zu dir selbst und zu anderen Menschen. Eine Sache, die ich hier im Kurs gelernt habe, bedeutet mir sehr viel. Eine vortragende Person hat gesagt: ‚Die Natur schafft keine Fehler, sondern Vielfalt.‘ Das würde ich gerne teilen.
Der Zertifikatskurs Peers der Wohnungslosenhilfe wurde 2017/2018 gemeinsam mit dem FSW entwickelt und wird durch eine Projektförderung des FSW finanziert. Mehr zum neunerhaus Peer Campus.