„Helfen, nicht drübersteigen.“

© Christoph Liebentritt

Angelika T. lebte abwechselnd auf der Straße, auf der Donauinsel und in Notquartieren, bis sie im neunerhaus Hagenmüllergasse ein Zuhause fand. Für die neunerhaus Kampagne #ÜberLebenReden erzählt sie, wie es war, als Frau obdachlos zu sein, wie sie den Alltag auf der Straße bewältigt hat und was sie aus dieser Zeit mitgenommen hat.

Du hast auf der Donauinsel gelebt. Wie war das?

Als zuerst meine Mama und dann meine Schwester an Krebs gestorben sind, bin ich nur mehr abgerutscht. Dann hab‘ ich die Caro kennengelernt, die hat mir gezeigt, wie man auf der Donauinsel lebt. Mit einem Griller und einer Gaskartusche haben wir das Essen gewärmt. Im Winter haben wir uns Decken gekauft, damit wir uns wenigstens zudecken konnten.

Was ging dir in der ersten Nacht auf der Donauinsel durch den Kopf?

Da hab‘ ich nicht schlafen können, weil ich geglaubt habe, ich werde bestohlen. Da schläft man mit Sack und Pack. Meinen Rucksack hab‘ ich als Kopfpolster benutzt, die Schuhe habe ich gar nicht ausgezogen. Zuerst hatten wir auch gar kein Zelt.

Wie sah dein typischer Tag aus?

Wir sind eigentlich nur herumgerannt, haben geschaut, dass wir zu Essen und zu Trinken haben. Wir waren in Parks, sind zu meiner Mama und meiner Schwester ans Grab.

Wie war das mit der Körperpflege, als du kein eigenes Badezimmer hattest?

Die Körperpflege ist schwer gegangen. Bei einer U-Bahn-Station gabs früher eine Putzfrau, die lies uns dort duschen. Oder du gehst ins Hallenbad, aber da musst du auch Eintritt zahlen. Und wenn man die Tage kriegt ist das halt schwer. Weil wo kriegt man was her? Es ist sehr schwer, wenn man kein Geld hat.

Wie war es im neunerhaus Hagenmüllergasse ein eigenes Badezimmer zu haben?

Ja, sehr schön. Am Anfang wollte ich gar nicht duschen gehen, weil ich es nicht gewohnt war. Dann war ich über Stunden drinnen, ich bin gar nicht mehr rausgekommen. Das hat gutgetan. Ich musste den ganzen Dreck und alles runterwaschen. Obwohl du dich pflegst, kannst du dich auf der Straße nicht so pflegen, wie du gerne würdest. Du kannst meistens nur Katzenwäsche machen.

Wie meine Mama und meine Schwester gestorben sind, ist mein Leben nur mehr bergab gegangen. Bis ich zu neunerhaus gekommen bin, dann ist mein Leben wieder bergauf gegangen. Es ist viel, wenn man einen Backofen, ein Schlafzimmer und eine eigene Dusche hat.“

Angelika T. hat im neunerhaus Hagenmüllergasse ihr Zuhause gefunden. Sie schätzt, was für viele eine Selbstverständlichkeit ist.
Hattest du jemals Angst auf der Straße?

Ja (pausiert). Ja. Als Frau ist das sehr schwer und als Frau hat man sehr viel Angst.

Hast du dich einsam gefühlt?

Eigentlich bist du alleine. Die Freunde, die du glaubst zu haben, sind nicht deine Freunde. Die Leute wollen nix mit dir zu tun haben, wenn du auf der Straße lebst. Die Caro, das war meine einzige Freundin – sie ist noch immer meine beste Freundin. Sie hat alles mit mir durchgestanden, kam mit zu den Beerdigungen von meiner Oma, meiner Mama und meiner Schwester.

Gab es in der Zeit auch schöne Momente für dich?

Wenn wir in der Nacht schwimmen gegangen sind. Das war schön. Aber ich gehe nicht mehr auf die Donauinsel, weil ich mit dem Ganzen gar nicht mehr konfrontiert werden will. Es war keine schöne Zeit.

Was würdest du jetzt Menschen raten, die obdach- oder wohnungslos sind?

Man muss nicht auf der Straße schlafen. Man hat wirklich viele Möglichkeiten. Als Frau hast du leider nicht so viele Möglichkeiten, für Männer gibt es mehr.

Nicht drübersteigen, sondern helfen.

Angelika T. lässt das Schicksal von Menschen auf der Straße nicht kalt.
Wie wird man auf der Straße behandelt?

Wenn du auf der Straße bist, wirst du anders behandelt. Ganz anders. Du wirst wirklich wie Dreck behandelt. Die denken, du bist selber schuld an der Situation. Aber man weiß nicht, wer, warum, weshalb, wieso man in dieser Situation ist. Sie sollten sich wirklich überlegen, ob sie einen als Sandler beschimpfen und hintreten. Leider, leider schauen viele weg.

Was heißt das, sie haben dich wie Dreck behandelt? Was haben sie gemacht?

Nichts haben sie gemacht. Sie sind vorbeigegangen, haben dich angespuckt und beschimpft. Dass du Dreck bist. Dass du nichts kannst, eh nichts weißt. Wenn wir kein Geld hatten, sind wir schnorren gegangen. ‚Geh‘ hakln, schau’ dass du eine Wohnung kriegst!‘ haben sie gesagt. Sehr schlimm ist‘s auf der Straße. Da will ich auch nicht mehr hin. Habe ich nicht vor.

Leute auf der Straße brauchen Hilfe. Ich habe früher nie darüber nachgedacht, bis ich selber auf der Straße war. Und seitdem denke ich nur daran, wie es den Leuten eigentlich geht. Früher bin ich selber drübergestiegen, heute sag‘ ich: Nicht drübersteigen, sondern helfen.

Was hat dir geholfen, nicht aufzugeben?

Mein Sohn. Der lebt zwar mittlerweile bei meiner Stiefmama, also seiner Oma. Aber für ihn wollte ich nie aufgeben. Und mein Kater Balu. Der ist mein Herz. Ohne den könnte ich mir mein Leben gar nicht mehr vorstellen.


neunerhaus Kampagne #ÜberLebenReden

Wie Angelika T. haben sich auch Ilse F., Markus K. und Helmut L. mit ihren Geschichten vor den Vorhang – und vor die Kamera – gewagt. In bewegenden Interviews erzählen sie von Delogierungen, einem Leben im Auto oder vom Alltag auf der Straße.

Mit der Kampagne #ÜberLebenReden macht neunerhaus sichtbar, was es bedeutet, obdach- oder wohnungslos zu sein. Jeder Mensch kann in eine Notlage geraten. Entscheidend ist, dass ein Neuanfang möglich wird. neunerhaus schafft dazu Perspektiven: mit Wohnraum, medizinischer Versorgung und sozialarbeiterischer Beratung. Denn: Überleben ist der Anfang, Leben das Ziel.

Die Menschen und ihre Geschichten im interaktiven Videoformat kennenlernen auf: neunerhaus.at/ueberlebenreden

In der neuen Kampagne #ÜberLebenReden kommen Menschen zu Wort, die wohnungs- oder obdachlos waren. Sie erzählen in kurzen Videos von ihren ganz persönlichen Erlebnissen und Begegnungen.