Als Sozialarbeiterin berät und begleitet Annette H. Menschen, die obdach- oder wohnungslos waren, auf ihrem Weg zurück in die eigene Wohnung. Sie beendet Wohnungslosigkeit. Wie sie das konkret macht und was Obdachlosigkeit mit der eigenen Verletzlichkeit zu tun hat, darüber spricht sie in diesem Beitrag.
Wie sieht dein Arbeitstag als Sozialarbeiterin bei neunerhaus Housing First und Mobil betreutes Wohnen aus?
Annette H.: Manchmal beginne ich mit einem Hausbesuch, manchmal mit Anrufen bei Behörden. Und wir führen natürlich Beratungsgespräche. Ich betreue junge Erwachsene, Einzelpersonen und Familien mit Kindern. Wohnungslosigkeit hat viele Gesichter.
Die Menschen, die zu dir in die Beratung und Betreuung kommen, stehen entweder kurz vor dem Verlust ihrer Wohnung oder sind bereits obdach- oder wohnungslos. Wie geht es ihnen, wenn du sie zum ersten Mal triffst?
Annette H.: Ich nehme an, dass viele nervös sind: Was und wer erwartet sie hier? Gleichzeitig ist diese große Hoffnung da, endlich wieder in einer eigenen Wohnung wohnen zu können. Gerade deshalb ist das Erstgespräch ein sensibler und wichtiger Termin. Wir bauen Vertrauen auf und vermitteln komplexe Informationen. Und wir geben einen guten Ausblick, was die Klient*innen erwartet, und das kann auch erstmal enttäuschend sein. Denn was auf sie zukommt, ist eine Wartezeit. Wie lange sie ist, ist schwer einzuschätzen. Leistbare Wohnungen sind nicht einfach zu vermitteln.
Du bist seit 2010 bei neunerhaus. Was überrascht dich nach fast 15 Jahren Arbeitsalltag?
Annette H.: Immer wieder gibt es Schicksale, die mich erschüttern. Was ich immer wieder besonders finde, ist von vielen Menschen der Lebenswille. Immer wieder ‚Ja‘ zum Leben sagen, auch, wenn das Leben wahnsinnig schwer ist und das ‚Ja‘ manchmal ein Kampf ist. Was Menschen schaffen, aushalten und ertragen können, ist beeindruckend.
Ich erfahre von Leben, die ich mir so nicht hätte vorstellen können.
Annette H. ist auch nach fast 15 Jahren bei neunerhaus überrascht, was die Menschen durchmachen müssen.
Ich finde, dass unsere Nutzer*innen sehr, sehr viel leisten, bis sie eine Wohnung anmieten und einziehen können. Manche Menschen kommen direkt aus der Obdachlosigkeit. Es fehlen Dokumente, die für eine Anmietung notwendig sind. Wenn sie es dann schaffen, mit einem Mindesteinkommen ihre Wohnung zu erhalten, dann beeindruckt mich das.
Was hat sich in den letzten Jahren in der Obdach- und Wohnungslosenhilfe verändert?
Obdach- und wohnungslose Menschen erhalten schnell Unterstützung und vom ersten Moment an das Zutrauen, es wieder zu schaffen, in einer Wohnung zu leben und wieder in der Gesellschaft anzukommen. Schwieriger geworden ist der bürokratische Aufwand. Der geht manchmal auf Kosten der Beratungs- und Betreuungsarbeit, die ich leisten könnte. Das Arbeitspensum ist mehr geworden und was die Situation in den letzten Jahren enorm erschwert hat, waren Krisenzeiten wie Corona und die Teuerungen. Es ist viel schwerer geworden, mit einem Mindesteinkommen die Kosten für Miete und Energie zu stemmen. Das spüren wir in der Betreuung und Beratung.
Was wünschst du dir für deine Arbeit in der Wohnungslosenhilfe?
Mein Wunsch ist, dass ein gesellschaftliches Selbstverständnis entsteht, dass Wohnen ein Menschenrecht ist. In der Betreuung selber würde ich mir gern ein bisschen mehr Zeit wünschen, längere Betreuungszeiten und flexiblere Unterstützungsmöglichkeiten.
Es ist eine enorme existenzielle Belastung, von Wohnungslosigkeit bedroht zu sein oder zeitweise in Obdachlosigkeit zu leben.
Annette H. über die Schwere von Obdach- und Wohnungslosigkeit.
Was motiviert dich in deiner Arbeit, welches schöne Erlebnis ist dir besonders in Erinnerung geblieben?
Ein Klient sagte mir, nachdem ich ihn während einer psychischen Krise täglich kontaktiert hatte, dass das nun nicht mehr nötig sei. Gleichzeit bedankte er sich, dass ich in der schweren Zeit für ihn da war und dass es für ihn eine wichtige Erfahrung war, zu wissen, da sorgt sich jemand um ihn. Immer wieder melden unsere Klient*innen an einem bestimmten Punkt zurück, wie wichtig es ist, dass sie nicht alleine waren.
Was sollen Leser*innen über Obdach- und Wohnungslosigkeit wissen?
Die vielen Lebensgeschichten, die wir hören, verdeutlichen, dass es jede*n treffen kann. Wir können Schicksalsschläge nicht vorausbestimmen. Wir selbst wären dankbar, wenn dann jemand da ist und uns nicht ignoriert. Obdachlosigkeit ist oft geprägt von Wegschauen, weil man auch gar nicht weiß, was man tun kann oder soll. Eine solidarische Haltung in diesen Situationen macht für mich aufgrund unserer eigenen Möglichkeit des Scheiterns Sinn. Wenn wir bei Wohnungslosigkeit und Obdachlosigkeit wegsehen und die Betroffenen ausgrenzen, bin ich überzeugt, verleugnen wir letztlich auch unsere eigene Verletzlichkeit.
Jetzt helfen – jetzt spenden!
369.000 Menschen in Österreich geben an, bereits einmal ohne eigene Wohnung gewesen zu sein. Wohnungslosigkeit betrifft längst nicht mehr nur jene, die am Rand unserer Gesellschaft stehen. Steigende Kosten bringen immer mehr in prekäre Lebensverhältnisse.