Warum holt neunerhaus Menschen vor den Vorhang?

Wir finden, es braucht Mut, sich mit der eigenen Geschichte in die Öffentlichkeit zu wagen. Noch mehr, wenn es um Tabu-Themen wie Obdach- und Wohnungslosigkeit, psychische Erkrankungen und persönliche Schicksalsschläge geht. Hier erzählen wir euch, warum neunerhaus echte Menschen und ihre Lebensrealität zeigt – fernab von Klischees.

Warum zeigt neunerhaus Menschen, die von Obdach- oder Wohnungslosigkeit betroffen sind oder waren?

neunerhaus stellt in seiner täglichen Arbeit Menschen in den Mittelpunkt – auch in der Kommunikation. Seit 25 Jahren arbeiten wir mit Menschen, die ihr Zuhause verloren haben, am Rande der Gesellschaft stehen, sich kein warmes Mittagessen leisten können oder nicht krankenversichert sind. Wir sehen jeden Tag Männer, Frauen, Menschen, die sich keinem Geschlecht zugehörig fühlen, junge Menschen, alte Menschen und ganze Familien, die zu uns kommen. Wenn wir über unsere Arbeit sprechen, dann wollen wir das in der ganzen Bandbreite tun – fernab des Klischees des obdachlosen Mannes mit Bart und Bier auf der Parkbank. Wir tun das, weil:

  • Wohnungslosigkeit vielfältig ist, oft unsichtbar bleibt auch überwunden werden kann.
  • Wir damit zu Entstigmatisierung beitragen.
  • Sprache Realität schafft und beeinflusst, wie wir als Einzelne und als Gesellschaft mit Menschen in Wohnungsnot umgehen.
  • Sichtbarkeit Teilhabe bedeutet. Wer öffentlich mit seiner Geschichte gehört wird, nimmt wieder Raum in der Gesellschaft ein – als handelnde, selbstbestimmte Person.
  • Indem wir Menschen und ihre Lebensrealität zeigen, schaffen wir Nähe und machen deutlich: Dein Leben und mein Leben, die sind nicht so weit voneinander entfernt.

Wir wollen ein differenziertes Bild von Obdach- und Wohnungslosigkeit zeigen. Das ist nur gemeinsam mit den Menschen möglich, für die wir arbeiten. In Österreich waren im Jahr 2023 insgesamt 20.500 Menschen obdach- oder wohnungslos gemeldet, 369.000 Menschen haben bereits einmal in ihrem Leben Obdach- oder Wohnungslosigkeit erlebt. Wir stellen einige dieser Menschen vor, um zu zeigen: Hinter jeder dieser Zahl steckt ein Menschen mit einer eigenen Geschichte. Wir wollen nicht nur ihre persönlichen Geschichten erzählen, sondern sie auch in einen gesellschaftlichen Kontext stellen. Welche strukturellen Ursachen gibt es für Obdach- und Wohnungslosigkeit – wie Armut, fehlender leistbarer Wohnraum, Teuerungen und strukturelle Diskriminierung (mehr über strukturelle Diskriminierung von obdach- und wohnungslosen Menschen lesen).

neunerhaus zeigt echte Menschen. Wäre es nicht besser, Symbolfotos zu verwenden, um die Menschen zu schützen?

Wir sind uns der Verantwortung bewusst, die wir mit jeder Veröffentlichung tragen. Deshalb achten wir auf eine respektvolle Bildsprache. Wir zeigen die Menschen nicht als hilflose Personen, sondern selbstbewusst und wie sie trotz widrigster Umstände oder Schicksale ihr Leben selbstbestimmt gestalten. So vermeiden wir klassische Mitleidskommunikation. Denn unser Ziel ist es nicht, durch schockierende Bilder Betroffenheit zu erzeugen, sondern Verständnis, Respekt und Solidarität zu schaffen.

Fotografie und die Darstellung von Menschen in schwierigen Situationen und Lebensphasen, haben einen wesentlichen demokratiepolitischen Beitrag, die Breite, Vielfalt und Unterschiedlichkeit unserer Gesellschaft und Lebensrealitäten zu zeigen.

Wie geht neunerhaus mit sensiblen Themen um?

neunerhaus setzt sich für ausgegrenzte Menschen ein. Unabhängig von der jeweiligen Thematik stehen wir während des gesamten Entstehungsprozesses einer Geschichte in engem Austausch mit unseren Gesprächspartner*innen. Von der ersten Kontaktaufnahme bis zur Veröffentlichung und auch darüber hinaus. Unsere Protagonist*innen entscheiden, was sie erzählen möchten und in welchem Rahmen. Jede Geschichte entsteht im Dialog.

Angelika T. im Interview © Christoph Liebentritt

„Niemand fragt, warum du auf der Straße bist.“

Angelika T. wohnt im neunerhaus Hagenmüllergasse. Für die neunerhaus Kampagne #ÜberLebenReden tritt sie vor die Kamera und erzählt, was es bedeutet, als Frau obachlos zu sein.

Gibt es Bereiche, in denen neunerhaus davon absieht, echte Menschen zu zeigen?

Alle Gesprächspartner*innen haben die Möglichkeit, ihre Geschichte anonymisiert zu erzählen. Gemeinsam wägen wir ab, wie und welche Aspekte einer Geschichte wir erzählen. Wir wollen nie einen voyeuristischen Blick auf die Menschen richten und sie so der Gefahr von Angriffen aussetzen, insbesondere in der digitalen Welt. So ist es für eine Geschichte zum Beispiel nicht relevant, welche Krankheit zu Arbeitslosigkeit und Wohnungsverlust geführt hat. Manchmal, wie bei Markus K., hat die Krankheit, eine Depressionen, große Relevanz. Für die neunerhaus-Kampagne #ÜberLebenReden hat er sich vor die Kamera gestellt und mit uns über dieses Thema gesprochen.

Was haben Menschen davon, wenn sie ihre Geschichte für neunerhaus veröffentlichen?

Unsere Gesprächspartner*innen sprechen freiwillig mit uns. Sie ziehen daraus keinen materiellen Vorteil und erhalten auch keine finanzielle Aufwandsentschädigung.

Das Erzählen der eigenen Geschichte ist immer auch ein Arbeiten mit der eigenen Biografie. Es kann dazu beitragen, die Vergangenheit besser zu verstehen und zu verarbeiten, Akzeptanz für das eigene Ich zu schaffen und sich zu fragen: Wie soll meine Geschichte weitergehen?

Wir fragen unsere Gesprächspartner*innen, warum sie so offen mit uns reden und hören oft, dass sie andere Menschen, die vielleicht in einer ähnlichen Situation sind, helfen und zeigen wollen: Du bist nicht alleine. An dieser Stelle möchten wir allen Menschen DANKE sagen, die ihre Geschichte mit uns teilen. Ohne sie wäre unsere Arbeit nicht möglich.


In der neuen Kampagne #ÜberLebenReden kommen Menschen zu Wort, die wohnungs- oder obdachlos waren. Sie erzählen in kurzen Videos von ihren ganz persönlichen Erlebnissen und Begegnungen.