Wie ist es, im Alter von 50 Jahren die Wohnung zu verlieren? 20 Jahre später spricht Ilse F. in der neunerhaus Kampagne #ÜberLebenReden offen und ungeschönt darüber. Hier erzählt die Bewohnerin des neunerhaus Kudlichgasse was ihr am meisten dabei geholfen hat, wieder aufzustehen.
Wie hast du nach deiner Delogierung 2006 gewohnt bzw. gelebt?
Unterschiedlich. Mal bei einer Freundin für mehrere Monate, vorübergehend bei meiner Tochter, dann bei einer Bekannten im Keller auf einem Feldbett. Ich habe viel Couchsurfing betrieben. Im Sommer bin ich oft um 7:00 morgens an die Alte Donau. Da habe ich mich zwei, drei Stunden aufs Ohr gelegt. Wenn Leute gekommen sind und es laut geworden ist, hab‘ ich mich wieder zusammengepackt und bin in den Prater gefahren. Da habe ich mich auf eine Bank gesetzt, hab‘ gelesen, dann geschlafen – aber sitzend.
Als ich wieder als Taxifahrerin gearbeitet habe, habe ich im Auto geschlafen. Als mein damaliger Chef das gemerkt hat, hat er mir den Schlüssel zu einem Veranstaltungscontainer gegeben. Da gab’s ein Klo, ein Waschbecken, eine Dusche, eine Heizung. Die Tür konnte ich absperren. Da habe ich mich häuslich niedergelassen, bis ich in ein Übergangsquartier konnte.
Musstest du jemals auf der Straße schlafen?
Von der Straße war ich immer weg. In der Nacht hätte ich wirklich nicht gewusst, was ich mache.
Du hattest 10 Jahre lang keine eigene Wohnung, was macht das mit einem?
Ich habe mir immer gedacht, irgendwie wird es schon weitergehen. Mühsam war es, wenn jemand nach der Adresse gefragt hat. Man ist da irgendwie Mensch dritter Klasse, wenn nicht vierter. Ich habe Jobs gesucht, aber ohne Adresse hast du keine Chance. Du kriegst immer nur Ablehnungen, da ist man wirklich verloren. Das ist ein Teufelskreis. Wenn du einen Job kriegen würdest und die fragen dann nach der Adresse, dann wars das. Und das ist erniedrigend. Das ist halt das Problem, wenn du mal so weit unten bist, es ist ein Riesenberg, der vor einem steht, den man dann irgendwie erklimmen muss und das so schnell wie möglich, weil sonst wird der Berg immer größer.
„Ich bin das, was man eine verkrachte Existenz nennt. Ich habe viel gemacht, aber nichts nachweislich.“
Ilse F. sagt das ohne Bitterkeit. Sie arbeitete in den unterschiedlichsten Jobs und sorgte lange Zeit allein für das Familieneinkommen. Unfälle und Krankheiten führten immer wieder zu längeren Unterbrechungen. Es war kaum möglich, Geld zur Seite zu legen – für Notfälle oder schwierige Zeiten.
Wie hast du es geschafft, nicht aufzugeben und den Berg zu erklimmen?
Es kostet viel Willen und viel Kraft. Die Jazz Gitti hat ein Lied gehabt: Es ist keine Schande, wenn man fällt, aber man muss wieder aufstehen. Und genau das ist es. Man muss sich den Tritt verpassen, dass man in kleinen Schritten versucht, weiter zu kommen. Es wird viel gemacht in Wien, keine Frage. Aber es ist immer noch zu wenig. Und manchmal muss man die Leute an der Hand nehmen und ihnen den Tritt verpassen, wenn sie es selber nicht schaffen. Ich bin eine Kämpferin. Ich hab‘ mir selbst den Tritt verpasst (lacht).
„In der Kudlichgasse habe ich 23 Quadratmeter. Also, ich bin mir vorgekommen wie in einem Palast.“
Ilse F. betrieb lange Zeit Couchsurfing oder schlief in dem Taxi, das sie fuhr – Hauptsache, sie musste die Nächte nicht draußen verbringen. Bevor sie zu neunerhaus kam, lebte sie auf wenigen Quadratmetern in einem Zimmer eines Übergangsquartiers.
Gibt es etwas aus dieser Zeit, das du in schöner Erinnerung behalten hast?
Nur das, was mit Rapid zu tun hat und mit den Leuten, die mir geholfen haben.
„Und da muss ich sagen, da haben mir die Jungs vom Stadion sehr geholfen. Alle, sowohl die Spieler als auch jemand vom Management – und meine West.“
Langsam ging es wieder bergauf, für Ilse F. war und ist der Fußballclub Rapid sehr wichtig.
Für die neunerhaus Kampagne #ÜberLebenReden hat Ilse F. Fragen zu ihrem Wohnungsverlust beantwortet. Am Ende jedes Interviews stellen wir die Frage: „Was möchtest du uns noch sagen?” Das ist ihre Antwort:
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neunerhaus Kampagne #ÜberLebenReden
Wie Ilse F. haben sich auch Angelika T., Markus K. und Helmut L. mit ihren Geschichten vor den Vorhang – und vor die Kamera – gewagt. In bewegenden Interviews erzählen sie von Delogierungen, einem Leben im Auto oder vom Alltag auf der Straße.
Mit der Kampagne #ÜberLebenReden macht neunerhaus sichtbar, was es bedeutet, obdach- oder wohnungslos zu sein. Jeder Mensch kann in eine Notlage geraten. Entscheidend ist, dass ein Neuanfang möglich wird. neunerhaus schafft dazu Perspektiven: Mit Wohnraum, medizinischer Versorgung und sozialarbeiterischer Beratung. Denn: Überleben ist der Anfang, Leben das Ziel.
Die Menschen und ihre Geschichten im interaktiven Videoformat kennenlernen auf: neunerhaus.at/ueberlebenreden