Im Jahresbericht 2022 blicken wir zurück auf ein Jahr im Bereich Gesellschaft bei neunerhaus
Anfang 2022 herrscht im neunerhaus Café noch Routine: Täglich werden köstliche Bio-Mittagessen und Kaffees zubereitet und niederschwellige Beratungsgespräche angeboten. Doch dann ändert sich alles: Russland greift die Ukraine an und viele Menschen müssen fliehen. Das neunerhaus Café bietet ihnen einen Ort, wo sie zur Ruhe kommen können. „Es kam für uns alle sehr plötzlich. Eines Morgens haben sie angefangen, uns zu bombardieren“, berichtet Lira B. aus Dnipro. „Wir mussten alles zurücklassen und konnten nur das Nötigste mitnehmen.“ Immer mehr Menschen kommen im Lauf des Frühjahrs ins Café, was einen erhöhten Bedarf an Verpflegung und Beratung mit sich bringt.
Im Vergleich zum Vorjahr wurden im neunerhaus Café von Jänner bis Juni doppelt so viele Mittagessen ausgegeben und sozialarbeiterische Gespräche geführt.
Die Zusammensetzung der Menschen, die ihren Weg ins Café finden, wird dadurch noch vielfältiger als sie es bisher bereits war: Neben Menschen aus der Ukraine kommen Menschen, die von Obdach- und Wohnungslosigkeit betroffen sind, Nachbar*innen aus dem Grätzl und Gäste, die sich für das Konzept des neunerhaus Cafés interessieren. In den Gesprächen, die die neunerhaus Sozialarbeiter*innen und Peer-Mitarbeiter*innen im Café führen, kommen im vergangenen Frühjahr die Themen Einsamkeit, Arbeitslosigkeit, prekäre Lebenssituationen und geringe Einkommen auf.
Das beobachtet auch Jan Chlebovec, der im Café arbeitet und selbst Wohnungslosigkeit erfahren hat. Peer-Mitarbeiter*innen wie er helfen mit ihrem reflektierten Erfahrungswissen anderen Menschen, die von Obdach- und Wohnungslosigkeit betroffen sind: „Als Peer bin ich oft der erste Kontakt des*r Nutzer*in mit dem Sozialsystem“, erzählt er. Chlebovec hat im vergangenen Jahr 829 Mal in Gesprächen Unterstützung angeboten. Anfang des Jahres 2022 ist das Team im neunerhaus Café mit einer Problematik konfrontiert, die sich schon in den Jahren davor kontinuierlich verschärft hat: Hitze. Hitze wird seltener als Bedrohung für obdachlose Menschen wahrgenommen als Kälte – doch dem ist nicht so: Chronische Erkrankungen verschlechtern sich, wovon besonders Menschen mit Herzerkrankungen betroffen sind. Das heiße Wetter ohne Abkühlung und Schlafmangel als Folge setzen Nutzer*innen sehr zu. So kann eine scheinbar in der Sonne dösende Person durch einen Hitzschlag oder Dehydratation bereits bewusstlos sein und in Lebensgefahr schweben.
Im Sommer hält auch die Rekordzahl an Patient*innen in der Tierärztlichen Versorgung an. Im vergangenen Jahr haben 55 ehrenamtliche Tierärzt*innen und Assistent*innen 2.263 Untersuchungen von Tieren obdach- und wohnungsloser Menschen durchgeführt. Das ist eine erhebliche Steigerung im Vergleich zum Vorjahr, die unter anderem darauf zurückzuführen ist, dass viele Menschen aus der Ukraine gemeinsam mit ihren Tieren geflüchtet sind.
Die Situation von armutsbetroffenen Menschen verschärft sich nochmals mit Anbruch der kalten Wintermonate. „Meine Energiekosten wurden angepasst und ich kann die neue Rate nicht mehr zahlen. Deshalb trag ich zuhause jetzt immer Jacke und Haube – die Heizung bleibt erst mal aus“, erzählt eine Nutzerin, die sich im Café beraten lässt. Viele Menschen berichten, dass sie den Tag auch deshalb im Café verbringen, um der Kälte der eigenen vier Wände zu entkommen. Fragen rund um die Themen Wohnen, Mietrückstände und nicht zahlbare Energierechnungen prägen die Beratungsgespräche des vergangenen Winters noch stärker als bisher.
Darüber hinaus ist das neunerhaus Café ein geschützter Raum, in dem sich besonders Frauen wohlfühlen und nach Bedarf unterstützt werden können. Die Räumlichkeiten gewährleisten Offenheit und Überblick, bieten aber auch Nischen und Ecken für Rückzug und Privatsphäre an. Gewalt an Frauen ist eines der Themen, das neunerhaus Sozialarbeiter*innen in unterschiedlichen Angeboten im vergangenen Jahr stark beschäftigt hat.
Frauen, die obdach- oder wohnungslos sind, haben aufgrund ihrer prekären Situation ein erhöhtes Risiko, von Gewalt betroffen zu sein.
Diese wird häufig nicht erkannt, weil weibliche Wohnungslosigkeit selbst oft nicht wahrgenommen wird. Eine Peer-Sprechstunde, eine Frauen-Gruppe sowie eine gynäkologische Praxis gehören zu den Angeboten, die neunerhaus deshalb speziell für Frauen in schwierigen Lebenssituationen eingerichtet hat.
Die gesellschaftlichen Entwicklungen im vergangenen Jahr haben dazu geführt, dass sich die Situation armutsbetroffener und obdachloser Menschen zunehmend verschärft hat. Stetig steigende Wohn- und Lebenshaltungskosten können von einem auf den anderen Moment eine prekäre Situation in eine massive Notlage verwandeln. neunerhaus antwortet mit innovativen Projekten – wie dem Peer-Projekt oder der Praxis Psychische Gesundheit – unmittelbar auf neu entstehende Bedarfe. Gemeinsam mit vielen Kooperationspartner*innen stößt neunerhaus systemische Veränderungen an, um ein menschenwürdiges und selbstbestimmtes Leben für alle zu ermöglichen.
Dieser Beitrag ist erstmals im Jahresbericht 2022 erschienen.